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Geschichte & Architektur

Aus der Gästeliste von Bad Doberan-Heiligendamm: Rainer Maria Rilke

Rainer Maria Rilke – das ist ein bekannter Name, wie Goethe, Schiller und Lessing. Aber anders als Faust, An die Freude und Nathan der Weise fällt dem Durchschnittsgebildeten kein Werk Rilkes ein. Kein Wunder: Rilke war kein Dichter, sondern Lyriker. Er dichtete zwar auch, aber eigentlich waren seine Werke philosophischer Natur. Er schrieb Briefe und Reimbände und es gab nie das eine Gedicht, sondern immer ganze Bände und Bücher. Rilke war jemand, der mit Worten und Rhythmen komponierte.

(Quelle: Wikimedia)

Als junger Mann hatte er gerade „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ beendet und fiel in eine Schaffenskrise. Seine Inspiration suchte er in Aufenthalten. 1912 war er auf Schloss Duino der Prinzessin von Thurn und Taxis bei Triest und fing „Die Duineser Elegien“ an. Im gleichen Jahr wurde „Die Weise von Liebe und Tod des Comets Christoph Rilke“ beim zweiten Versuch zum Erfolg, nachdem es 1906 gerade als Liebhaberstück taugte. Nun war die Inspiration wieder erschöpft und Rilke brauchte neue Impulse.

Er folgte 1913 einer Einladung der Schriftstellerin und Salonière Helene von Nostiz an den Heiligen Damm. Sein erstes Treffen mit der Nichte des Reichspräsidenten war 1910, als von Nostiz nach einer Veranstaltung Rilkes zu ihm kam. Im Juli 1913 schwärmte sie in einem Brief an ihn von der ruhigen Umgebung in Heiligendamm. Rilke war gerade auf einer Art Pilgerfahrt nach Weimar, um an der Wirkungsstätte Goethes zu verweilen und er beschloss, vor einer geplanten Zahnbehandlung in Berlin seine kollegiale Freundin an der Ostsee zu besuchen. Er traf dort auch auf ihre Familie.

Rilke kam an einem August-Nachmittag in Heiligendamm an und fand einen Ort vor, der ihm gar nicht gefiel. Hier inmitten des Trubels sollte er Ruhe finden? Nur die Höflichkeit gegenüber seiner Gastgeberin verhinderte eine sofortige Umkehr, aber er schrieb ihr, dass er früh abreisen werde.

Helene von Nostitz führte Rilke am frühen Abend in den Wald zum See. Es war der „Spiegelsee“, wie wir ihn seit unbekannter Zeit nennen. Ob er damals schon so genannt wurde, wissen wir nicht. Es ist ein geschützt liegender Waldsee, der mit seiner glatten Oberfläche die Baumkronen und den Himmel spiegelte. Ein Blick nach unten in das stille Wasser war wie ein Blick nach oben in den Himmel. Und ein Blick über den Rand des Ufers war ein Blick in den Spiegel – ins Selbst. Dieser See musste einfach die Seele berühren.

(Quelle: Verlag Joh. Bitter, Bad Doberan)

Rainer Maria Rilkes Seele berührte er wohl, denn es zog ihn in den Folgetagen immer wieder zu diesem ruhigen Ort. Er schrieb sogar Gedichte. Sie sind nicht Faust, nicht Nathan der Weise und wurden auch nicht zur Hymne vertont, aber sie finden sich in Band III. der gesammelten Werke.

Das erste Gedicht widmete er dem dunklen Wald, den er vom sonnigen Platz der Weißen Stadt am Meer aus betrat und in den er immer tiefer hinein ging, begleitet vom Rauschen des unsichtbaren Meeres, das nur als Glitzern, Flackern und Flirren zwischen den Bäumen rechterhand erahnbar ist. Hohe Bäume säumten den Weg und das Ziel lag fast am Ende dieses dunklen Waldes. Hinter den schuldlosen Bäumen. Und so lautete auch sein Gedicht:

 

Hinter den schuldlosen Bäumen

Hinter den schuldlosen Bäumen
langsam bildet die alte Verhängnis
ihr stummes Gesicht aus.
Falten ziehen dorthin …
Was ein Vogel hier aufkreischt,
springt dort als Weh-Zug
ab an dem harten Wahrsagermund.

O und die bald Liebenden
lächeln sich an, noch abschiedslos,
unter und auf über ihnen geht
sternbildhaft ihr Schicksal,
nächtig begeistert.
Noch zu erleben nicht reicht es sich ihnen,
nach wohnt es
schwebend im himmlischen Gang,
eine leichte Figur.

Rainer Maria Rilke, August 1913, Heiligendamm
Gesammelte Werke, Band III

 

(Quelle: Verlag Joh. Bitter, Bad Doberan)

Doch das eigentliche Gedicht widmete er dem Spiegelsee selbst. Fast am Rande des Waldes lag er doch gefühlt mittendrin. Nur das helle Sonnenlicht, das von Süden und Westen durch die Bäume scheint, ließ erahnen, dass der Wald dort zu Ende ist. Weit genug entfernt von der windigen See lag er meistens ruhig da, aber hin und wieder erreicht auch ihn ein Windstoß von Norden. Man ist immer noch dicht genug an der See, um das Wellenrauschen bei stärkerem Wind zu hören.

(Quelle: A. Beckmann)

Die Bäume wurden von ihm geformt und sie sind an der Küste nicht schnurgerade in die Höhe gewachsen, sondern windschief und verzogen. All das beobachtete der aufmerksame Mann und hielt es fest. Doch sein Gedicht geht über den Waldsee hinaus, erzählt auch von der Rückkehr ins Zimmer und seinen Gedanken.

 

Waldteich

 

Waldteich, weicher, in sich eingekehrter
Waldteich, weicher, in sich eingekehrter -,
draußen ringt das ganze Meer und braust,
aufgeregte Fernen drücken Schwerter
jedem Sturmstoß in die Faust -,
während du aus dunkler unversehrter
Tiefe Spiele der Libellen schaust.

Was dort jenseits eingebeugter Bäume
Überstürzung ist und Drang und Schwung,
spiegelt sich in deine Innenräume
als verhaltene Verdüsterung;
ungebogen steht um dich der Wald
voll von steigendem Verschweigen.
Oben nur, im Wipfel-Ausblick, zeigen
Wolken sagenhafte Kampfgestalt.

Dann: im teilnahmslosen Zimmer sein,
einer sein, der beides weiß.
O der Kerze kleiner Kreis,
und die Menschennacht bricht ein
und vielleicht ein Schmerz im Körper innen.
Soll ich mich des Sturmmeeres jetzt entsinnen
oder Bild des Teichs in mir behüten
oder, weil mir beide gleich entrinnen,
Blüten denken -, jenes Garten Blüten -?
Ach wer kennt, was in ihm überwiegt.
Mildheit, Schrecken? Blicke, Stimmen, Bücher?
Und das alles nur wie stille Tücher
Schultern einer Kindheit angeschmiegt,
welche schläft in dieses Lebens Wirrn.
Dass mich eines ganz ergreifen möge.
Schauernd berg ich meine Stirn,
denn ich weiß: die Liebe überwöge.

Wo ist einer, der sie kann?
Wenn ich innig mich zusammenfasste
vor die unvereinlichsten Kontraste:
weiter kam ich nicht: ich schaute an;
blieb das Angeschaute sich entziehend,
schaut ich unbedingter, schaute knieend,
bis ich es in mich gewann.

Fand es in mir Liebe vor?
Tröstung für das aufgegebne Freie,
wenn es sich aus seiner Weltenreihe
wie mit unterdrücktem Schreie
in den ungekannten Geist verlor?

Hab ich das Errungene gekränkt,
nichts bedenkend, als wie ich mirs finge,
und die großgewohnten Dinge
im gedrängten Herzen eingeschränkt?
Fasst ich sie wie dieses Zimmer mich,
dieses fremde Zimmer mich und meine
Seele fasst?
O hab ich keine Haine in der Brust? kein Wehen?
Keine Stille, atemleicht und frühlinglich?

Bilder, Zeichen, dringend aufgelesen,
hat es euch, in mir zu sein, gereut? –

Oh, ich habe zu der Welt kein Wesen,
wenn sich nicht da draußen die Erscheinung,
wie in leichter vorgefasster Meinung,
weither heiter in mich freut.

Rainer Maria Rilke, 19./20.6.1914, Paris
Späte Gedichte. Leipzig 1934.

 

 

Der Spiegelsee heute

Nur Kenner finden den Spiegelsee heute noch. Längst ist er in Vergessenheit geraten. In der DDR spielte er wie Rilke selbst keine historische Rolle, nach der Wiedervereinigung wurden Wege und Brücken um den See angelegt, aber da sie nicht gepflegt wurden, ist längst alles verwildert. Auch der See selbst ist stark zugewachsen und eher ein Biotop, als ein Ausflugsziel. Wenn er aber Wasser hat, ist sein Reiz immer noch der alte:

Sein Wasser bekommt der See durch eine Wasserscheide. Das heißt, das Wasser fließt zu ihm hin, auch unter der Oberfläche.

An der Oberfläche hat der See eine Verbindung nach Norden und fließt direkt neben dem DECK & Beach Club über den Strand in die Ostsee.

Es gibt noch weitere Vernestelungen nach Osten. In den letzten Jahren war der See oft über längere Zeit ausgetrocknet, weil der Grundwasserspiegel durch lange Trockenheit gesunken ist.  

 

Wie man den Spiegelsee erreicht

Um zum Spiegelsee zu gelangen, geht oder fährt man zwischen der Median-Klinik und den Bahnschranken die Straße zum Kinderstrand entlang. Entlang und am Ende der Straße befinden sich rechts und links Parkplätze, auf denen in Parkrichtung geparkt wird. Auch für eine Radtour ist die Strecke gut geeignet. 

An der Lichtung befindet sich eine Schranke, die einen Waldweg absperrt. Diesen Weg geht man entlang und kommt so in den Wald hinein. Nach einigen Metern biegt der Weg links nach Osten ab. Dieser Abbiegung folgt man nicht, sondern geht rechts nach Westen den schlechteren Weg entlang. Auch dieser gabelt sich noch einmal. Es empfiehlt sich, die rechte Seite zu nehmen, denn dort kommt man dem See problemlos näher. Eine Umrundung ist kaum möglich.

Um den See gibt es einige kegelförmige Vertiefungen. Es handelt sich um Bombenkrater von Notabwürfen im 2. Weltkrieg. 

Koordinaten des Spiegelsees: 54°08’29.3″N 11°49’32.2″E

 

 

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