Buchvorstellung und Rezension: Palais Heiligendamm (Michaela Grünig, Lübbe-Verlag)
Palais Heiligendamm – Ein neuer Anfang:
Sehr gelungener Roman mit Tiefgang
Im Jahr 2019 erreichte mich eine E-Mail von Michaela Grünig. Die hauptberufliche Autorin war bei ihren Recherchen für eine neue Belleristik-Reihe auf ERSTES SEEBAD aufmerksam geworden und hatte einige Fragen an mich. Sehr interessante Fragen und sehr einzigartige, die mir so noch niemand gestellt hatte. Es war nur ein kurzer Austausch, aber ein Jahr später meldete sie sich wieder mit dem fertigen Resultat – dem dicken Roman „Palais Heiligendamm – Ein neuer Anfang“.
Ob ich meine Gedanken dazu schreiben könne. Natürlich! Dazu musste ich das Buch aber erst lesen und das war in der Corona-Zeit mit Homeschooling & Co. gar nicht so einfach. Dank Amazon Audible konnte ich das aber abkürzen, indem ich mir bei einfacheren Arbeiten von einer angenehmen Stimme das Buch vorlesen ließ. Nun bin ich durch und es ist Zeit für meine Gedanken.
Kurz zur Handlung: Es geht um eine Familie aus besseren Kreisen, die zur Jahrtausendwende in Doberan ein Hotel eröffnete. Es heißt zwar „Palais Heiligendamm“, ist aber nicht das Grand Hotel. Dem kommt eine wichtige Nebenrolle zu. Der Direktor und Ortsvorsteher macht der Familie das Leben schwer, aber durch glückliche Fügungen gelingt es doch immer, Klippen zu umschiffen. Wenngleich Vater Kuhlmann zu seinem Glück gezwungen werden muss, denn er lässt sich ungern in sein Geschäft hinein reden. Einzig sein jüngster Sohn Paul darf ihm das Wasser reichen, nachdem der ältere andere Pläne verfolgt. Doch der Jüngere hat so gar kein Interesse am Hotelgeschäft und auch nicht die Fähigkeiten eines Gastgebers. Hingegen seine Schwester Elisabeth interessiert und engagiert sich – damals eigentlich undenkbar und genau das ist ein durchgehendes Thema im Roman. Sie steht ihre Frau und das geschäftlich mit Bravour.
Doch es geht um so viel mehr als um die Probleme einer selbst denkenden Tochter einer streng konventionellen Familie. Es geht um Liebe, die von Eltern abgelehnt wird oder auch Liebe, die nicht sein darf, es geht um außereheliche Kinder und um Waisen. Es geht um Wohlstand und Armut, um gesellschaftliche Konventionen und Zwänge. Der Roman geht in die Tiefe, beschäftigt sich mit Homosexualität, mit Frauenrechten, mit Antisemitismus, mit Kolonialpolitik und dem Denken dieser Zeit, mit dem Grauen des 1. Weltkriegs, den Toten an der Front und der Not der Hinterbliebenen, der Verzweiflung und Ausweglosigkeit, aber auch dem Ideenreichtum und zuletzt mit der aufkeimenden Revolution.
Der Leser findet sich mal tief im Herzen der Hauptdarstellerin, mal im Gefühlschaos ihres homosexuellen Bruders, mal im Kopf des wundervollen Küchenmädchens und zwischendurch beim Pferderennen oder dem Wasserflugzeugwettbewerb, am Strand, im Park, aber auch auf dem Schlachtfeld, im Lazarett und in der Hauptstadt wieder.
Michaela Grünig hat nicht einfach nur Ereignisse erwähnt, sondern sie im Kontext der Handlung eingebaut. Mal erscheint ein geschichtliches Ereignis als Randnotiz, mal hat ein Gespräch darüber große Auswirkungen auf die weitere Handlung. Und die ist voller Aha-Momente und Überraschungen. Dennoch geschieht nichts Unwahrscheinliches und nichts Unmögliches. Im Gegenteil: Manchmal schlägt man sich die Hand an die Stirn und sagt sich, dass man das hätte kommen sehen müssen. Die Geschichte jedes einzelnen Charakters könnte wahr sein und die im Buch berührten Nebencharaktere könnten tatsächlich gelebt haben. Selbst ich könnte das nicht ausschließen.
Ich habe gelächelt und gelacht, geschimpft und geflucht beim Lesen und geweint – mal vor Trauer, mal vor Rührung. So muss Belleristik sein. Am Ende steht ein neuer Anfang, der den Leser zurück lässt mit einem starken Bild einer starken Frau, vielen offenen Fragen und der absoluten Neugier auf die Antworten.
Und die gibt es im nächsten Band: Palais Heiligendamm – Stürmische Zeiten:
Palais Heiligendamm – Stürmische Zeiten:
Die Fortsetzung macht neugierig auf mehr.
Kaum hatte ich den ersten Band ausgelesen, habe ich mich sogleich an die nächste Geschichte der Familiensaga gemacht. Der 1. Weltkrieg ist zu Ende, die Revolution auch und Deutschland eine Republik. Doch als Geschichtsinteressierter weiß ich, dass damit nicht alles gut ist. Die Hyperinflation, der schwarze Freitag, die Massenarbeitslosigkeit, der Judenhass, die Pogrome und schließlich der Griff der Nationalsozialisten nach der Macht fallen in diese Zeit und die Familie Kuhlmann muss das durchleben, was wir heute nur aus Büchern und von Zeitzeugen kennen.
Zündstoff gibt es genug: Der schwule Bruder der Hoteldirektorin und die jüdische Schwiegerfamilie versprachen schon im Vorfeld viel Spannung. Und die gibt es in diesem zweiten Band – sogar noch mehr als im ersten. Denn es geht streckenweise um Gedeih und Verderb, ja um Leben und Tod. Ich möchte die Handlung nicht vorweg nehmen. Es sind stürmische Zeiten und manchmal glaubt man, die Geschichte könne nur noch tragisch enden.
Auch hier ziehen sich glückliche und mitunter auch erst gar nicht so glücklich aussehende Zufälle durch die Geschichte. Wieder ist nichts unmöglich – ganz im Gegenteil, es gelingt der Autorin wieder einmal, echte Geschichte und Fiktion wunderbar miteinander zu vermengen. Sehr oft fand ich erfreut meine eigenen Worte in diesem Buch wieder und ich bin angetan von der Masse an Informationen, die Michaela Grünig auf ERSTES SEEBAD gesaugt und geschickt in die Geschichte eingeflochten hat.
Es gibt Ereignisse in diesem Buch, die tatsächlich stattgefunden haben und wenn man danach sucht, findet man sie im Internet. Das macht es unglaublich realistisch, wenn da Minnas Ehemann einer Schießerei entkommt, aber seine Gefährten Bohn und Klöcking erschossen werden – Namen, die es wirklich gab und die Sie auch hier auf ERSTES SEEBAD finden. Oder wenn Brands Höh‘ brennt oder ein neues Wohngebiet entsteht, auch wenn der Investor hier fiktiv ist. Es macht mir als Einheimischen Spaß, dieses Buch zu lesen und ich glaube, dass hier für viele Geschmäcker etwas dabei ist.
Das Buch endet an einem Punkt, an dem jeder sehen musste, was kommt und keiner mehr sagen konnte, er habe das nicht gewusst. Dieses Buch ist wie eine Mahnung an uns heute – gut verpackt in eine realistische Geschichte mit Figuren, die unsere Großeltern hätten sein können. Das Ende ist wie beim ersten Band stark und schaut nach vorn.
Wir wissen heute, dass eine düstere Zukunft folgte und fragen uns, wie es weiter geht mit der jungen Familie, dem homosexuellen Bruder als neuer Hoteldirektor, aber auch NSDAP-Handlanger, mit der jüdischen Schwiegerfamilie und Minna in Paris und mit ihrem Albert in der Sowjetunion – und mit dem Palais Heiligendamm selbst.
Leider werden wir uns noch bis zum 22. Januar 2022 gedulden müssen. Ich habe schon vorbestellt und natürlich gibt es auch wieder eine Rezension für den 3. Band der Saga: Tage der Entscheidung.
Palais Heiligendamm – Tage der Entscheidung
Eine berührende Reise zum Anfang vom Ende.
Wie habe ich auf den letzten Teil der Saga hin gefiebert. Und dann gab es auch noch Verzögerungen, bis „Palais Heiligendamm – Tage der Entscheidung“ endlich als Hörbuch verfügbar war. Ich habe nicht lange gebraucht, um es zu hören, denn bei jeder Gelegenheit hatte ich den Kopfhörer auf den Ohren.
Teil drei der Saga spielt in der Zeit der Machtergreifung Hitlers bis hin zum Ausbruch des 2. Weltkrieges. Es ist wieder einmal alles drin: Judenhass, Verfolgung Andersdenkender, aber auch Euthanasie und verschiedene Institutionen, von denen wir heute wissen, dass sie entweder dem Nationalsozialismus Vorschub geleistet oder für ihn Verbrechen begangen haben. Wie gehabt sind die Themen eingeflochten in das Familienleben der Charaktere. Die Hauptfigur Elisabeth tritt in den Hintergrund und die gar nicht so unähnliche Tochter Julia spielt die neue Hauptrolle. Wieder gibt es jede Menge Ereignisse, die man googlen kann und die tatsächlich in Bad Doberan-Heiligendamm stattgefunden haben. Und es gibt ein paar, die Gott sei Dank frei erfunden sind, aber durchaus hätten wahr sein können. An einigen Stellen habe ich das Bedürfnis, die Autorin zu fragen, ob sie sich das ausgedacht oder das wirklich stattgefunden hat. Sie spielt auch wieder mit echten Namen echter Personen, die freilich nur Nebenrollen spielen können, aber die man in diesen bildlich vor Augen hat.
Die Handlung bleibt wunderbar schwierig. Warum sollte sich das auch ändern, wenn man zwei Teile konsequent fortsetzt? Bis zum Schluss ist man sich nicht sicher, ob es denn in Teil 3 endlich ein Happy End gibt. Man denkt sogar schon an den Tod fast aller Hauptcharaktere, wenn sich erst einer und dann der nächste in Situationen begibt oder hinein gezogen wird, die man weiß Gott nicht erleben möchte.
Paul gerät immer tiefer in den braunen Sumpf, aber sein Ansehen beim Leser (zumindest bei mir) steigt mit jedem Zweifel, den er bekommt. Seine Handlungen bleiben merkwürdig und auch die seiner Schwester Luise werden immer merkwürdiger. Aber all das passt zu diesem Rahmen und dieser Zeit. Man kann nicht sagen, was sie hätten anders machen sollen. Man findet in diesen und nebenbei erwähnten ganz gewöhnlichen Lebenswegen eine Antwort auf die heute immer wieder gestellten Fragen: „Warum hat das niemand durchschaut?“ und „Warum hat das keiner verhindert?“ Der Autorin gelingt es, die Leser die Antwort fühlen zu lassen und sie liefert reihenweise Beispiele für ganz persönliche Motive – vom Nutzen bis zur Todesangst und das mit allen Facetten dazwischen. Wer immer schon mal wissen wollte, warum Hitler so weit kommen konnte und dafür nicht erst viel lesen will, der kann hier die Antworten empfinden, statt sie nur vorgesetzt zu kriegen. Es waren wirklich „Tage der Entscheidung“ – für jeden in dieser Zeit.
Beim Lesen bzw. Hören fiebert man mit den Charakteren und verzweifelt mit ihnen, wenn sich wieder einmal Abgründe auf tun und freut sich mit ihnen, wenn sich neue Türen öffnen. Die Wege des Herrn sind unergründlich – das scheint ein Motto der ganzen Saga zu sein.
Richtig begeistert hat mich, dass es kein Friede-Freude-Eierkuchen-Happyend gibt. Nein, es endet so, wie auch die anderen Bände: Mitten in einer neuen knallharten Realität. Ich will es aber nicht vorweg nehmen. Gewiss ließe sich noch ein vierter Teil daraus machen, denn wenn sie nicht gestorben sind…
Kurzum: Auch das dritte Band hält, was es verspricht. Von mir eine uneingeschränkte Empfehlung.
Hier gibt es die Saga:
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Hallo!
Ich habe die 3 Bände „Palais Heiligendamm“ gelesen und bin stark beeindruckt von deren Inhalte.
Den Rezensionen hier kann ich nur beipflichten : Welch unglaubliche Rechere muss dahinter stehen, um so informativ die damaligen geschichtlichen Umstände, Ereignisse und Umwälzungen aufzeigen zu können und welches Geschick, dies alles dann noch alles um eine Familie drumherum zu weben!
Für mich war es der beste „Geschichtsunterricht“ ; vorallem darüber, wie es sich letztlich eben doch entwickelte, dass Hitler das Sagen bekam….. ich spürte förmlich, wie damals eine gewisse Eigendynamik Fahrt aufnahm…… meine früheren Vermutungen fand ich hier bestätigt. Darüber reden, sich offen austauschen, ist noch heute oft ungewollt. Man sagt eben kurz und einfach : Hitler ist schuld. Da muss man ja auch nicht nachdenken oder mal in sich gehen……. In den Büchern wurde mittels der Protagonisten der Blick in Geist, Wesen und Seelenleben so facettenreich, so lebendig, so nachvollziehbar, so tiefgründig und so ehrlich offenbart! Einfach furchtbar, wie Menschen da gelitten haben, welche gegen das Regime waren oder unter Zwang und Drohungen leben und arbeiten mussten! Kinder zu Feinden ihrer Eltern.wurden…… oder eben Eltern ihre eigenen Kinder fanatisch geopfert haben……Was, wenn ich damals gelebt hätte? Als Kind, als Erwachsene? — Welch ein Schrecken!
Möge es bitte!! Immer weniger Menschen ( bis gar keine) geben, welche so fies die Menschheit mit machthungrigen und unmenschlichen Absichten manipuliert! Und möge es immer mehr Menschen geben, welche es früh genug durchschauen und sich gemeinsam stark dagegen machen!
Es wird so viel gelogen, wenn uns einfachem Volk ein vermeintlich Schuldiger für irgendwelche Miseren präsentiert wird. Aufpassen – früher wie heute – da steckt oft mehr dahinter!