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Wir wollen kein zweites Heiligendamm? Eine Kolumne.

„Wir wollen kein zweites Heiligendamm“ lautet das Motto derer, die sich gegen eine Bebauung der Halbinsel Wustrow durch den Eigentümer Anno August Jagdfeld aussprechen. Für mich als Heiligendamm-Kenner und Gästeführer, der den Touristen die Schönheiten des ältesten deutschen Seebades zeigt, hat dieser Satz eine ganz andere Bedeutung als für Reriker, die aus ganz unterschiedlichen Gründen ganz unterschiedliche Dinge fürchten. Für sie geht es um Angst vor mehr Verkehr und um die Befürchtung, dass auf dem Eiland vor ihrer Haustür etwas entsteht, das für sie genauso unerreichbar bleibt, wie jetzt die Ruinen der einstigen „verbotenen Halbinsel“.

Da ich mich auch mit Wustrow viel beschäftigt habe, sehe ich die Parallelen, kenne die Pläne und auch die Entwicklung dessen, was im Januar 2021 zum Aus für Jagdfelds Pläne führte. Ich habe viele Diskussionen begleitet und auch selbst geführt und habe nachgedacht:

 

Was wäre, wenn es in Heiligendamm anders gelaufen wäre?

Ich möchte dabei nicht zurückgehen in das Jahr 1793, als ein „Nein“ des Herzogs gereicht hätte, um die Gründung des ersten deutschen Seebades im Keim zu ersticken. Ich möchte auch nicht über 1872 reden, als der dritte Regent seit der Gründung das Bad an Baron Otto von Kahlden verkaufte. Natürlich kann man darüber spekulieren, was passiert wäre, wenn der nicht nur die zweite Reihe für eine weniger wohlhabende Klientel geöffnet hätte, sondern das ganze Bad. Aber das ist Geschichte.

Auch 1911 soll kein Thema sein – die erste Pleite des ersten Seebades unter dem Industriellen Walter John. Ich will ich nicht über 1923 reden, als Baron Oskar Adolf von Rosenberg das Bad aus der Pleite holte und auf internationales Niveau hob, was ihm goldene Zeiten bescherte. Auch 1933 soll kein Thema sein, als die Nazis das Adelsbad zu einem KdF-Bad machten oder 1942, als Rosenberg enteignet wurde und das Bad zur Reichskadettenschule wurde, schließlich Flüchtlingsunterkunft und dann für die Sprengung geräumt. Hätte man Heiligendamm gemäß den Vereinbarungen im Potsdamer Abkommen gesprengt, gäbe es das Thema heute gar nicht.

 

Was wäre, wenn es 1948 anders gelaufen wäre?

Über 1948 müssen wir aber reden. Der Krieg war vorbei, Deutschland unter den Siegern aufgeteilt und man hatte neue Pläne für Heiligendamm. Der Sohn des letzten Herzogs wollte nach dem Krieg seine drei Villen (Villa „Krone“, Mariencottage, Alexandrinencottage) wiederhaben und die neuen Machthaber nutzten seinen Restitutionsantrag für einen Propagandafeldzug. Der „Gutsherr“ kam ins Gefängnis und das Adelsbad wurde zum Sanatorium für Werktätige.

Wir wissen nicht genau, ob die Pläne für ein Sanatorium auch ohne Christian Ludwigs Auftauchen schon in der Schublade gelegen haben und sein Antrag nur ein gefundenes Fressen war. Eines ist sicher: Ein Luxusbad wäre Heiligendamm im Sozialismus so oder so nicht geworden.

Erst 1953 entschied sich die Frage, ob es nun ein FDGB-Erholungsheim für Urlauber oder ein Sanatorium für Kurpatienten werden sollte. Man entschied sich für Letzteres. Wäre das Ensemble ein FDGB-Heim geworden, dann hätte man Heiligendamm touristisch entwickelt – Freizeiteinrichtungen, wie Sportplätze wären entstanden, man hätte am Strand eine größere Möglichkeit der Versorgung geschaffen, zum Beispiel eine große Imbissgaststätte oder eine kleine Bummelmeile.

Vielleicht auch eine Kaufhalle und gar nicht so unwahrscheinlich auch eine Schwimmhalle, denn die hatte man in den 1980ern tatsächlich auf dem Plan. Es wären auch neben dem FDGB-Heim andere Unterkünfte entstanden, wie Ferienwohnungen, Betriebsferienheime und eventuell ein Zeltplatz. Auch die Idee eines Kinderferienlagers am westlichen Waldrandes gab es.

Weil Heiligendamm aber ein Sanatorium wurde und die Menschen, die hier her kamen, keinen Urlaub machten, sondern ein straffes Rehabilitations-Programm durchliefen, brauchte man keine touristische Infrastruktur. Bildlich gesehen musste Heiligendamm kein großes Hotel werden, sondern eine große Klinik.

Der Ort ringsherum wurde genau auf diese Funktion ausgerichtet. Aus den historischen Häusern wurden Bettenhäuser, Ärztehäuser und Sanatorium-Einrichtungen. Mitarbeiter wurden vor Ort angesiedelt und für sie entstanden ein Kindergarten, ein Konsum und eine Drogerie.

In der DDR war Heiligendamm ein Seebad, wie jedes andere. Der Findling erinnerte noch an die Zeit der Herzöge und Barone, die Gebäude hingegen waren für Arbeiter und Bauern. Bergleute erholten sich hier von ihrer Arbeit unter Tage und die Burg mit dem Namen des bekannten Adelsgeschlechts der Hohenzollern hieß wie ihr Gruß: Glück auf!

Ins Sanatorium kam man nur mit einer Überweisung vom Arzt, außer man war Selbstzahler, was es in der DDR aber de facto nicht gab, sodass man Bundesbürger mit Devisen sein musste, um selbst zahlen zu können. Das war nicht in jedem DDR-Bad so – in Heiligendamm zog die Geschichte und darum lebte man gerade so viel davon, wie es für Devisen-Werbung nötig war.

Normalerweise lief man in Heiligendamm zwischen den großzügig gebauten Häusern hindurch zur Promenade, zum Strand oder ging auch mal in ein paar Gebäude hinein. Nicht in Haus „Berlin“ oder „Mecklenburg“, nicht in Haus „Weimar“, „Dresden“ oder „Magdeburg“ und auch nicht in Haus „Brahn“ oder „Glück auf“. Auch die sieben Villen der „Perlenkette“ suchte man nicht auf. Das alles war Sanatorium.

Dort ging nur ein und aus, wer dort zur Kur war, arbeitete oder wohnte. Bis zum Bau der Wohngebiete wohnten die Angestellten auch in Wohnungen in den Villen. Die Villen „Eikboom“ und „Adler“ waren Wohnhäuser, das einstige Golfhaus auch. Zwei weitere Villen wurden vom Reisebüro vermarktet. Wer Glück hatte, konnte hier Urlaub machen. Ansonsten musste er der Forst und Jagd angehören, sorbischer Schüler sein oder einfach Glück haben, irgendwo eine „Sachsenfalle“ zu finden – Omas Bett in der Garage gegen Bares.

Doch es gab auch einige Gebäude in Heiligendamm, in die man hinein kam: Die Hälfte des Erdgeschosses der Kolonnaden war ein Café. Hier wurden am Wochenende gut 20 Torten verkauft – überwiegend an Kurpatienten, aber auch an Tagesgäste, denn Heiligendamm liegt in der Mitte zwischen Kühlungsborn und Warnemünde – schon damals Touristenhochburgen.

Im „Fritz-Reuter-Haus“, das vom Reisebüro vermietet wurde, gab es unten eine öffentliche Gaststätte. So richtig vornehm konnte man im Kurhaus essen. Das hatte trotz der Lage mitten im Sanatorium eine öffentliche Gaststätte. Die Speisesäle waren im Haus „Berlin“, dem heutigen Hauptgebäude des Grand Hotels.

In der „Palette“ im Hinterland am Bahnhof konnte man Bier trinken und rustikalere Gerichte essen, im Jagdhaus gab es eine weitere Gaststätte und an der Promenade und am Kinderstrand Imbisse für den kleinen Hunger am Strand. Denn Heiligendamm war die Badewanne der Doberaner. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Es gab einen Konsum in der heutigen Orangerie und die Doberaner wussten, dass begehrte Ware als erstes hier geliefert wurde und dann erst in die Stadt. Darum gibt es in meinen Kindheitserinnerungen außer dem Strand und das Picknick an der Schleuse bei der Radtour auch den Konsum und die Drogerie im „Roten Hahn“.

In den 1980ern hatte man große Pläne für den kleinen Ort: Zwischen den Cottages sollte ein Kurmittelhaus mit Schwimmhalle entstehen und ein neues Bettenhaus. Eine Kaufhalle sollte am Bahnhof gebaut werden und Wohnblöcke neben dem Altersheim. Am Golfteich sollten ein Klärwerk und eine Fernheizzentrale entstehen. Gerade gegen die Veränderungen im historischen Ensemble wehrten sich die Denkmalschützer.

Was wäre gewesen, wenn nicht?

Dann wären dort in Plattenbauweise recht große Häuser entstanden, wahrscheinlich weiß getüncht, wie neben dem Prinzessin-von-Reuß-Palais. Wahrscheinlich hätte man sie nach der Wende abgerissen und den Urzustand wiederhergestellt.

Aber so weit kam es nicht. Das Klärwerk kam, die Fernheizzentrale später an anderer Stelle auch und die Wohnblöcke wurden gebaut. Ein Kurmittelhaus kam nicht und damit auch keine Schwimmhalle.

Da man die Betten aber brauchte, ersann man sich eine Lösung. Die ist typisch für die DDR: Man gab das Feld südlich des Bahnhofs zur Bebauung frei und machte die Auflage, dass jeder Bauherr zwei Zimmer für „Außenschläfer“ des Sanatoriums bereitstellen musste. So hatte man das Betten-Problem gelöst und zugleich die Mitarbeiter nicht nur des Sanatoriums vor Ort.

Fast alle Leute, die hier lebten, arbeiteten auch hier – zumindest einer pro Wohnung. Außer dem Sanatorium gab es im Ort auch die Forst und Wasserwirtschaft als Arbeitgeber und weil hier Menschen 6 Kilometer vom Stadtgebiet entfernt wohnten, gab es außer dem eigenen Konsum auch einen eigenen Kindergarten.

Für das Sanatorium gab es eine Gärtnerei, eine Wäscherei, die Verwaltung und Angestellte, die man einfach gern jederzeit vor Ort hatte. Auch die über das Reisebüro vermieteten Zimmer mussten gemacht werden und dafür wohnten Mitarbeiter in Nebenhäusern direkt auf dem Hof. Und es gab „Verdiente“, die hier wohnen durften, weil sie es eben nach Ansicht des Staates verdient hatten. Jede Zeit hat ihre Menschen.

 

Was wäre, wenn es nach 1990 anders gelaufen wäre?

Dann kam die Wende und mit ihr für vieles das Ende. Die Bundesversicherungsanstalt senkte die Bettenzahl für das Sanatorium und setze damit eine Abstiegsspirale in Gang. Vorbei waren die Zeiten, als Bernd Walter 20 Torten am Wochenende stückweise über den Tresen reichte und auch die zwei Fässer Bier in der „Palette“ reichten jetzt für sieben statt zwei Tage.

Die Außenbetten wurden nicht mehr benötigt. Die Heiligendammer vermieteten sie nun an Urlauber. Manch einstiger Kurpatient wurde zum Stammgast.

Doch die meisten Ostdeutschen machten nicht im Osten Urlaub und die Westdeutschen erst recht nicht. Somit fehlten außer Kurpatienten auch die ohnehin nicht vielen Touristen. Wer kam, hielt in diesen unsicheren Zeiten das Geld beisammen, hatte man doch gefühlt nun dreimal weniger Geld in der Hand als vorher. Auch das Kaufverhalten hatte sich geändert. Statt im Konsum einzukaufen, fuhr man lieber mit dem Trabi nach Lübeck zum ALDI oder später nach Rostock zum DIVI und PLAZA oder nach Kröpelin zum NORMA und später PENNY.

Selbst Bad Doberan bekam seine Discounter erst 10 Jahre nach der Wende, weil vorher keine der Ketten dort einen Markt sah. Da war in Heiligendamm schon alles weg. Der Konsum war weg, die Gaststätte im Fritz-Reuter-Haus, die Palette ging insolvent. Altenheim und Kindergarten waren weg, nur die Fachschule war bis zur Rückkehr nach Wismar 2002 noch da.

Aber es gab auch mutige Leute, die Neues aufbauen wollten. Allen voran Familie Metz aus dem Rheinland, die erst die Palette zum Hotel umbauen wollte und dann, als sich die Chance ergab, das Max-Planck-Haus und Fritz-Reuter-Haus von der Treuhand kaufte. Aus den ehemaligen Reisebüro-Unterkünften wurde das „Residenz Hotel Heiligendamm“. Da war von Jagdfeld noch gar keine Rede.

Der kam erst später ins Spiel und war auch da nur eine Nummer von mehreren. Der Bund befasste sich 1993 mit seiner riesigen Liegenschaft, die einen halben Ort ausmachte. 26 Immobilien und Grundstücke hatte er in Heiligendamm aus dem Volkseigentum übernommen. Das meiste davon weit über 100 Jahre alt und in den letzten 40 Jahren mehr schlecht, als recht erhalten. Heiligendamm war auch in der DDR einen Tick weißer, als Bad Doberan und dafür sorgte man auch, indem man Festbrennstoffheizungen verbot und ein eigenes Heizhaus baute.

Hupen war in Heiligendamm lange verboten und Hunde auch. Man verstand sich schon in Kurwesen, schließlich gab es hier bis zur Wende Außenstellen der Institute für Balneologie und Kurortwissenschaften und für Klimatologie. Man verstand sich auch in Sachen Denkmalschutz, aber am Ende bestimmte die Planwirtschaft, was und wieviel davon es an Material gab – und ob überhaupt. Zehn Mann waren eigens dafür da, die Bausubstanz zu erhalten, aber auch, Änderungswünsche zu realisieren, wenn hier die Loggia geschlossen oder dort das Fenster zugemauert werden sollte.

Zuletzt nahm das große Ausmaße an: Vor dem Ende der DDR entfernte man im Haus „Berlin“ den Lichthof, baute Fahrstuhlschächte ein und hing neue Decken daran auf. So gewann man Raum und verlor Ästhetik. Die zählte am Ende ohnehin nicht mehr. Die Villa „Möwe“ hatte ihre Türme verloren, die großen Bogen-Loggien waren zugemauert und mit eckigen Sprossenfenstern versehen worden, bei Villa „Schwan“ wurde eine frühere Attika völlig anders und gar nicht mehr mittig „rekonstruiert“ und die offenen Veranden und Erker geschlossen und mit riesigen Fenstern versehen.

Bei Villa „Hirsch“ ebenso und selbst die kaum verfremdete Villa „Greif“ erhielt noch eine Dachgaube. Am schlimmsten hatte es Villa „Großfürstin Marie – Perle“ getroffen. Der Turm, die Erker und die meisten Balkone waren weg und statt hoher Sprossenfenster gab es sprossenlose bronzefarbene DDR-Massenware, die alle Fenster wie leere Augen aussehen ließen. Selbst der Chefarzt Dr. Serowy protestierte gegen diese Verunstaltung, auch wenn er es sorgsam in Sorge um die Patienten wegen des anhaltenden Lärms verpackte.

Was wäre gewesen, wenn er nicht protestiert hätte?
Dann hätten alle Häuser am Ende so ausgesehen, wie das „Maxim-Gorki-Haus“.
Und doch muss ein Mann besonders erwähnt werden:

Was wäre, wenn es Lutz Elbrecht nicht gegeben hätte?
Der Doberaner Architekt wurde 1951 damit beauftragt, die zwar beschädigte, aber sonst intakte Burg umzubauen. Die Türme sollten weg und stattdessen ein Walmdach aufgesetzt werden. Eine Burg passte nicht in die Ideologie, die meinte, Goethe habe gesagt, das Klassische sei das Gesunde und das Romantische das Kranke. Die Burg sollte klassisch werden – klassizistisch. Sie wurde ein Krüppel, aber die Machthaber feierten Elbrechts Werk. Somit durfte er bleiben. Er hatte den Spirit Heiligendamms verstanden, schlug den Wiederaufbau des Golfplatzes vor und rief zur Wiederaufbau der Rennbahn auf – samt Entwürfen.

Doch Golf galt in der DDR als Sport der Elite der Kapitalisten und Pferderennen hätte man zwar gut als Leistungsprüfungen weiterführen können, hatte aber das Land schon verteilt und wollte nicht an der Bodenreform rütteln. Das war dann auch das Argument gegen den Golfplatz. Elbrecht wurde mit dem Auftrag zum Bau einer Waldbühne in Bad Doberan abgespeist. Er blieb dennoch präsent in der Denkmalpflege und solange es ging, hielt er an Sprossenfenstern und Bögen fest, statt die Häuser den gelieferten Fenstern anzupassen. Er und all jene, die durch Protest verhinderten, dass zwischen den Cottages ein Plattenbau entstand und dass das Gesamtensemble zerstört wird, hatten den Spirit Heiligendamms verstanden.

Was wäre, wenn die Menschen heute auch Heiligendamm lieben statt hassen würden und stolz drauf wären, statt es zu verabscheuen?

 

Was wäre gewesen, wenn der Verkauf anders gelaufen wäre?

Für uns heute ist das wohl die wichtigste Frage. Was wäre, wenn nicht Jagdfeld den Zuschlag bekommen hätte? Viele wissen gar nicht, welche Interessenten es gab und dass Jagdfeld erst einmal gar nicht dazu gehörte. Er hat sich nicht um Heiligendamm gerissen und um Wustrow auch nicht. Aber ganz von vorn:

 

Staatsbad oder Privatwirtschaft?

Der Bund prüfte zwischen 1990 und 1993 verschiedene Optionen. Ein Staatsbad wäre eine gewesen, aber der „Staat“ wäre in dem Fall das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern gewesen, denn in Deutschland gibt es Föderalismus. Niedersachsen hat zum Beispiel Norderney als Staatsbad. Das erste deutsche Nordseebad ist auch so ein schweres Erbe und ist privatwirtschaftlich einfach nicht zu den Gewinnen zu bringen, die es zum Erhalt bräuchte. Das gerade erst aus drei Bezirken wieder gegründete Bundesland Mecklenburg-Vorpommern sollte diese Belastung nicht aufgebürdet kriegen. Und es wollte dieses Erbe auch gar nicht haben.

 

Abriss und Neubau oder Erhalt und Sanierung??

Ein Abriss der Weißen Stadt am Meer war tatsächlich auch eine Option. Klar war, dass nach den letzten Umbauten in den 80ern jetzt eine Sanierung nötig war und klar war auch, dass diese Millionen kosten würde. Ein Abriss, eine Neuparzellierung der Flächen, ein neuer Bebauungsplan und der Verkauf der Grundstücke zwecks Neubauten war eine realistische Option. Die hätte sogar noch schnelles Geld, langfristige Einnahmen und neue Arbeitsplätze gebracht.

Hier war genug Platz für ein großes modernes Hotelressort oder auch mehrere kleine Hotels oder eine ganze kleine neue Stadt am Meer im Stil der frühen Neunziger aus Beton, Stahl und Glas. Vielleicht hätte man auch die alten Häuser in neuen Größen und mit einfacherem Zierrat imitiert. Eigentlich waren der Abriss und Neubau sogar die einfachste Option. Aber man wollte – und durfte wegen des Denkmalstatus – nichts unversucht lassen, die grauweiße Stadt am Meer zu retten. Viele kleine Investoren könnten ein Haus nach dem anderen retten – so die Theorie.

 

Einzelverkauf oder alles in einem Paket?

Also schrieb die Treuhand 1993 im Auftrag der Oberfinanzdirektion die Immobilien aus – jede einzeln und mit Frist bis Jahresende. Es gab durchaus Interessenten für die kleinen Villen. Es gab auch Ideen der Interessenten, die durchsickerten. Ferienwohnungen natürlich, Gaststätten bestimmt auch, Sozialwohnungen gewiss nicht. Auch von anrüchigen Vorhaben war die Rede und man suchte ja auch noch Unterkünfte für Asylbewerber – damals Roma und Sinti, die in Scharen nach Deutschland kamen und schon in ehemaligen NVA-Kasernen leben mussten, weil der Platz nicht reichte. So abgelegen vom eigentlichen Stadtgebiet war die Lage für Asylbewerberunterkünfte gar nicht so schlecht. Sie mussten ja nicht gerade in die Villen quartiert werden. Häuser gab es genug, auch in der zweiten Reihe.

Der damalige Bürgermeister Berno Grzech hatte ganz andere Sorgen: Jeder Eigentümer würde nun mit Anträgen kommen für Carports, Mülltonnenstellplätze, Schuppen & Co.. Jeder würde seinen Rasen zu anderer Zeit mähen und man könnte zwar die Wand- und Dachfarbe vorschreiben, aber nicht jedes Detail bei der Sanierung. Bisher war klar, dass die Wände, Türen und Fenster weiß sein müssen und die Dächer und Brüstungen schwarz.

So oder so – ein Einzelverkauf hätte nicht dazu geführt, dass alle Villen wieder komplett mit ihrem ganzen Zierrat so aussehen, wie vor dem 2. Weltkrieg. Der Bürgermeister hätte lieber alles in eine Hand verkauft gesehen. Aber er war nicht der Verkäufer der Bundesimmobilie, sondern der, der nachher mit dem Verkauf und seinen Folgen leben musste.

Nachdem sich nun abzeichnete, dass keiner die vier großen Hauptgebäude des einstigen Grand Hotels haben wollte, kamen auch die Entscheider zu der Einsicht, dass man alles bündeln und an einen verkaufen sollte. Wer die Villen will und sich die Paläste leisten kann, der würde schon alles nehmen. Was er dann damit macht, ist seine Sache und über Bebauungspläne kann auch die Stadt da mitreden. Über Verträge könne man Sanierungsreihenfolge und Fristen festlegen und gegen Spekulanten konnte man sich mit einer Heimfallklausel absichern.

Die Juristen hatten damals an alles gedacht. Dass später einmal Stadtvertreter diese Klauseln nutzen würden, um ihre eigenen Interessen gegen den Investor durchzusetzen, haben sie wohl nicht vorausgesehen. Ansonsten wäre das schon ein schöner Krimi, Investoren zu locken, die etwas aufbauen und sie dann wieder zu vertreiben, um sich ins gemachte Nest zu setzen.

 

Hotelresort oder Kurklinik

Also beendete man 1993 die Ausschreibung, bündelte die 26 Immobilien und Grundstücke zu einem Paket und bot sie komplett zum Verkauf an. Wieder war es die Treuhand, die mit Interessenten verhandeln musste. Der erste Interessent war ein kanandisches Unternehmen aus der Hotelbranche. Dieses wollte ein Resort und zwar so, wie man in Kanada Resorts macht: Zaun drum und zu. Strand, Promenade, Straßen – das sollte alles in den Zäunen des Resorts liegen.

Machbar war das durchaus: Man hätte nur entlang der Kühlungsborner Straße einen Zaun ziehen müssen und nördlich und westlich davon wäre dann das Resort gewesen und südlich und östlich davon die Heiligendammer wohnen. Zu ihren Häusern wären sie zumindest über die Gartenstraße als Sackgasse trotzdem gekommen. Allerdings nicht mehr an den Strand. Das geht so in Deutschland nicht und darum sortierte man die Kanadier gleich aus.

Interessent Nummer zwei und drei waren vielversprechend und mit denen verhandelte man. Die Asklepios-Gruppe wollte ein Kurhotel aus dem ehemaligen Sanatorium machen. Die Bedingung war sonderbar: Man wollte eine Glückspiellizenz, sonst würde man nicht kaufen. So abwegig war es dann aber auch nicht: Die ersten Taler, die in den Aufbau des Seebades flossen, stammen aus den Spielbanken des Herzogs in Doberan. Die anderen aus dem Verleih von 1000 Soldaten nach Oranien, aber das war für die Kurklinikgruppe nun wirklich keine realistische Option. Mit Glückspiel Heiligendamm finanzieren – das konnte klappen.

Die Entscheider sahen das anders. Was, wenn es nicht klappt?
Und so nahmen sie auch Verhandlungen mit der Dr.-Marx-Gruppe auf. Die entwickelte damals die MEDIAN-Kliniken und somit waren diese beiden Kandidaten Wunschkandidaten. Einer von ihnen würde das Erbe der letzten 40 Jahre fortführen. Ob nun als Kurklinik oder Kurhotel, war erst einmal gar nicht so wichtig. Hauptsache irgendetwas mit Kur, denn das klingt gesund.

Mit der Dr.-Marx-Gruppe war es jedoch auch nicht einfach. Die wollte zwar die alten Gebäude als Bettenhäuser nutzen, aber dort keine Klinik einrichten. Stattdessen sollte eine neue moderne Klinik hinter den Cottages entstehen. Dort gab es nur Wald und eine Sauna und das wäre innerhalb der 300-Meter-Zone mitten im heilklimatisch relevanten Bereich gewesen. Man bräuchte nur das Fenster öffnen, um Aerosol zu atmen. Wobei diese Argumentation ein wenig hinkt: Der Klinikneubau sollte ja rein klinik-technischer Natur sein und die Patienten direkt an der Promenade in den alten Häuser wohnen.

Darüber stolperte man nicht. Es gab einen anderen Grund für die Ablehnung: Es hätten 80 alte Buchen gefällt werden müssen und das wollten einige Heiligendammer nicht. Sie protestierten, gründeten eine Bürgerinitiative und machten die Zeitungen aufmerksam.

Prominente Unterstützung gab es vom prominentesten Heiligendammer: Dem Vize-Landrat Thomas Leuchert. Er ist inzwischen verstorben, sodass man ihn nicht mehr fragen kann, ob er aus Überzeugung die Rettung der Bäume der Rettung des Ortes vorzog oder aus Angst vor den Reaktionen seiner Nachbarn. Auch kann man nicht sagen, was er sonst noch tat, außer dagegen zu sein. Möglichkeiten hätte er in seiner Position gehabt.

Die Stadt reagierte jedenfalls und bot der Dr.-Marx-Gruppe den Forst-Containerlagerplatz an der Straßenkreuzung neben dem Bahnübergang an. Das war nur ein paar Meter weiter als die Ursprungsplanung, aber auch ein paar Meter zurück und damit außerhalb der heilklimatisch relevanten Zone, an einer Durchfahrtsstraße und in der unmittelbaren Nähe zur Drehscheibe der Dampflokverbindung. An offenen Fenstern gesunden ist hier nicht drin: Es ist auch heute mit weniger Verkehr noch laut, voller Abgase und Molli-Rauch. Nicht umsonst rannte Dr. Hummel oft zu den Autos, wenn die Schranken unten waren und die Autofahrer die Schilder mit der Bitte ignorierten, den Motor abzustellen. Für eine Kurklinik, die Atemwegserkrankungen heilen sollte, war dieses Standortangebot absolut unverständlich.

Aber Alternativen gab es keine und auch die durchaus konkurrierende Dr.-Ebel-Gruppe wollte in Bad Doberan investieren, also ging man darauf ein. Der Bau war nicht an die Bedingung geknüpft, dass die Klinik auch das Paket kauft. Inzwischen war man schon froh, wenn es überhaupt bis 2000 mit einer Kureinrichtung klappt, denn man peilte den begehrten Seeheilbadtitel an. Heiligendamm war zwar nach dem Kurortgesetz der DDR schon eines, aber am Markt zählt nur das aktuell geltende Recht.

Dass die Dr.-Marx-Gruppe die alten Gebäude nicht kaufen musste, wenn sie neu baut, hat einen einfachen Hintergrund: Die Stadt und der Bund hofften bei den alten Bauten noch auf Asklepios. Dann hätte man eine Kurklinik für die Kassenpatienten und gleich daneben ein Kurhotel für Selbstzahler. Wenn die Hoffnung darauf damals realistisch war – warum nicht?

Doch sie zerschlug sich. Aspklepios bekam die Glücksspiellizenz nicht und konnte darum die Finanzierung nicht sichern. Die veranschlagten 100 Millionen D-Mark konnte man sich damals auch nicht irgendwo leihen, um im Osten ein Kurhotel zu bauen. Keiner wollte so ein Wagnis finanzieren. Außerdem: Wenn schon der Bund so etwas los werden will, dann ist es wohl nichts.

 Für die MEDIAN-Klinik wurden zwei alte Wirtschaftsgebäude aus der Gründungszeit abgerissen. In der BILD-Zeitung zeigte man auf das Haus des alten und neuen Klinikchefs Dr. Schütt, der sein Haus angeblich mit den Steinen der abgerissenen 200 Jahre alten Fachwerkhäuser gebaut haben soll. Da war auch für die Dr.-Marx-Gruppe der Punkt erreicht, an dem sie ihre Klinik baute und von allem anderen nichts mehr wissen wollte – bis heute.

 

Was wäre gewesen, wenn Jagdfeld nicht ins Spiel gekommen wäre?

Spätestens jetzt dürfte es gewesen sein, dass der Bundesfinanzminister Theo Waigel als oberster Bundesvermögensverwalter zusammen mit Bundeskanzler Helmut Kohl bei Anno August Jagdfeld auf der Matte standen. Jagdfeld hatte gerade das legendäre Adlon in Berlin übernommen und saniert und die Finanzexperten meinten damals, wenn jemand Heiligendamm retten kann, dann er.

Nicht, weil er Multimilliardär wäre – ist er nicht – sondern weil er mit geschlossenen Immobilienfonds arbeitete, erfolgreich Liebhaber für eine Immobilie gewann und dann Millionen einsammelte. Es ging selten um Neubauten – meistens rettete er mit den Anlegern Denkmalimmobilien mit Geschichte. Er war kein windiger DotCom-Geschäftemacher, sondern stand für die alte Schule, die Klassiker, wie der Mercedes in der Autoindustrie. Die beiden baten ihn, sich zu bewerben, denn nur so konnte das legitim geschehen. Natürlich würde man ihm mit allen legalen Mitteln unterstützen, also Fördermitteln & Co.

Jagdfeld hatte da wohl schon in einer Zeitschrift die Fotos von der schlafenden Prinzessin gesehen und die Frage „Wer küsst die Prinzessin wach?“ innerlich mit „Ich“ beantwortet. Er hatte bereits Ideen und brainstormte zusammen mit Experten die Möglichkeiten in Heiligendamm. Mit Fördermitteln und mit einigen Sicherheiten war er bereit, das Wagnis einzugehen. Aber eines war klar: Ein Sanatorium wird das nicht. Wenn, dann wird es wieder das, was es einmal war.

Und so kam Anno August Jagdfeld ins Spiel, als alle anderen Verhandlungen gescheitert oder ins Leere gelaufen waren. So war es auch kurz darauf mit Wustrow. Da gab es zwei Interessenten in der Auswahl, aber Archy Nova konnte den Finanzierungsnachweis nicht erbringen. Sie wollte sich dann mit dem zweiten Interessenten zusammenschließen und auch da baten Waigel und Kohl Jagdfeld um sein Engagement, weil sie keine Hoffnungen in die Interessentenvereinigung setzten. Hinzu kamen damals noch Spekulationen um die Nähe von Archi Nova zu Scientology.

Auf Wustrow waren die Verhandlungen schon weit fortgeschritten, als Jagdfeld dazu kam. Heute heißt es, es sollen schon Grundstücke verteilt worden und einige Gegner von heute seien die Begünstigten von damals gewesen sein. Beweisen kann man das wohl nicht und solche Gerüchte gab es auch kurz mal in Heiligendamm. Es taugt nicht als Baustein im Aufbau der Antworten auf die Frage: Was wäre, wenn…?

In Heiligendamm sind die Gründe auch etwas klarer. Schaut man sich die Gegner von Jagdfelds Vorhaben an, sieht man ehemalige Heiligendammer, die kurz vor Weihnachten 1997 gekündigt wurden – von der Stadt, aber eben für die leere Übergabe an den Investor. Einer hat gekämpft und wollte als Ausgleich für seine verlorene Mietwohnung mit DDR-Mietvertrag eine große Geldsumme und ein Grundstück auf Wustrow. Die Geldsumme bekam er, für alles andere hatte selbst der Richter kein Verständnis.

So dachten aber nicht alle: Die meisten wollten nur ihre kurzen Wege zum Strand behalten. Heute muss man 5 Minuten länger laufen. Der Altersdurchschnitt in Heiligendamm ist hoch und auch in Bad Doberan überwogen bisher die Älteren. Vielleicht hängt es damit zusammen, aber viele der Gegner Jagdfelds fallen nicht in das Schema der Mobilitätsprobleme.

Auch um den einst öffentlichen Weg auf der Steilküste geht es. Der wurde mitverkauft und geschlossen. Dafür musste Jagdfeld einen Ersatz schaffen – einen Steg über das Packwerk. Das hat er getan, die Stadt hat es abgenommen, aber nach einigen Jahren stand er regelmäßig unter Wasser.

Die Stadtvertreter stritten mit Jagdfeld um einen Umbau mit Rampen oder einer Luxusvariante mit Verbindungen zur Seebrücke und zum Strandzugang Liegnitzweg. Lange gestritten wurde dabei gar nicht. Die ECH war bereit, da zu investieren, wie schon zuvor, als sie die städtischen Eigenanteile für den Bau des Waldparkplatzes, des Kurwaldes und der Umgehungsstraße übernahm, um nur drei Beispiele zu nennen. So hatte die Stadt keine Kosten, denn der Rest waren Fördermittel. Jagdfeld nützte eine Verkehrsberuhigung vor dem Hotel natürlich auch und auch wenn ihm der Seeheilbadstatus egal sein konnte, half er auch hier, die Anforderungen zu erfüllen. Sonst hätte Heiligendamm vor über 10 Jahren seinen Seeheilbadstatus verloren. Das wäre gewesen, wenn…

 

Was wäre gewesen, wenn ein anderer das Paket gekauft hätte?

Aber so ins Detail muss man gar nicht gehen. Was wäre gewesen, wenn die 26 Immobilien an jemanden verkauft worden wären, der nicht von 1900 Anlegern Geld einsammeln, sondern es sich hätte von Banken leihen müssen? Wie hätte er die Häuser saniert? Die ECH hat sie hochwertig saniert – drinnen wie draußen ist alles, wie beim Grand Hotel. Das Weiß ist keine billige Baumarktfarbe, sondern ein spezielles Farbe-Sand-Gemisch, die Fenster und Türen sind aus hochwertigem Holz, die Brüstungen aus maßgefertigtem Stahl und Holz.

Die Stuckaturen, Bossierungen, Nutungen und selbst die Schriftzüge wurden in Handarbeit wiederhergestellt – immer anhand von alten Zeichnungen, um so dicht wie möglich am Original zu bleiben. Die einzigen Veränderungen finden innen statt: Da gibt es nachträglich unter die Häuser gebaute Kellergeschosse für die Abstell- und Waschräume der Bewohner, für Haustechnik und Mülltrennung und bei den Villen auch für den Zugang zur künftigen Tiefgarage. Denn die Autos sollen in Arkadien nicht zu sehen sein – sie sollen unter der Erdoberfläche verschwinden. Grzechs Sorge um Carports zwischen den Villen hat sich dadurch erledigt.

Die Villen haben auch ausgebaute Dachgeschosse. Bisher waren dort wenn, dann nur Gesindewohnungen für die mitgebrachten Hausangestellten. Damit da heute gewohnt werden darf, müssen Normen erfüllt werden. So kommen die Dächer etwa 30 Zentimeter höher. Für einige Denkmalschützer kommt das einer Verschandelung gleich. Für den Investor bedeutet der Ausbau eine bis zwei Wohnungen mehr und damit mehr Einnahmen.

Wenn nun aber so aufwändig gebaut wird, kostet das viel Geld. Die Sanierung muss bezahlt werden und die Gemeinschaftseinrichtungen, wie die Tiefgarage auch. Das machen in einer klassischen Immobilienfinanzierung die Erwerber durch den Kauf ihrer Wohnungen. Hier sind alle Kosten mit drin, plus natürlich der Gewinn des Investors.

Bei Sanierungskosten im „gerade noch einstelligen Millionenbereich“ – genau will der Investor das nicht sagen – kommen da schon Millionen für die Erwerber zusammen. Unter einer Million gibt es nur kleine Studios. Wer so hohe Preise zahlt, erwartet auch eine hohe Qualität. So schließt sich der Kreis zwischen Qualität und Preis.

Im Umkehrschluss: Wer billig kaufen will, stellt auch keine Ansprüche an die Qualität. Jagdfeld hätte also auch billiger sanieren und die Wohnungen billiger verkaufen können. Den Unterschied hätte man dann auch von außen sehen können. Vor allem aber hätte es Leute angelockt, die weniger Geld haben und darum auch weniger ausgeben. Wahrscheinlich wäre das immer noch zu teuer für die meisten Einheimischen und sie hätten trotzdem auf die „Reichen“ geschimpft, nur dass die Adressaten nicht freiberufliche Ärzte und Anwälte und große Unternehmer gewesen wären, sondern angestellte Ärzte und Anwälte und kleinere Unternehmer. Es hätte sich nichts geändert.

Oder doch?
Diese neuen Bewohner hätten sich auch nicht das Grand Hotel leisten können und das war und ist die wichtigste Verbindung zwischen den beiden Projekten. Das Grand Hotel soll nicht größer werden – das kann man nicht managen. Es ist so schon nicht einfach, die sechs separaten Häuser zu versorgen. Aber es soll durch die Residenzen Stammkunden kriegen, die viel mehr Zeit dort verbringen als der durchschnittliche Hotelgast. Wer es sich leisten kann, geht jeden Tag zum Frühstück ins Kurhaus und zum Schwimmen ins Severin-Palais und isst öfters mal in den Restaurants und Bars. Dasselbe gilt auch für die Bewohner, die einst im Demmler-Park zwischen Hotel und Bahnhof wohnen werden. Dort wird es billiger als in den Villen, aber trotzdem teuer genug, um die Klientel anzulocken, die das Grand Hotel braucht.

Der Versuch der Kempinski-Gruppe, das Grand Hotel über TUI und Neckermann zu vermarkten, hat gezeigt, dass es nichts bringt, mehr Gäste ins Haus zu holen, wenn die schon bei den 9 Euro für die Flasche Wasser knausern. Das Hotel bietet viel all-inclusive, verdienen tut es aber mit allem, was die Gäste extra bezahlen. Wenn die Hotelgäste aber nie in den Bars und Gaststätten des Hotels gehen und sich nie massieren oder behandeln lassen, dann bringen sie nur die Rate ein, also den Zimmerpreis. Mann müsste dann die Preise erhöhen, um die Kosten zu decken, aber dann kämen noch weniger Gäste.

Oder es kämen jetzt endlich die Gäste, die es sich leisten können. Aber die müssen es sich auch leisten wollen und dazu muss man nicht nur gut sein, sondern exzellent, der Service nicht nur freundlich, sondern zuvorkommend und die Ausstattung nicht nur schön, sondern außergewöhnlich. Das konnte Kempinski nicht; das ermöglichten die Anleger Jagdfeld nicht und Morzynski ist darauf erst gekommen, nachdem Hoteldirektor Thilo Mühl mit seinem Auftrag entsprechend sturem Blick auf die Zahlen das andere Extrem aufgezeigt hat und es negative Bewertungen hagelte, selbst von weniger anspruchsvollen Gästen.

Mit dem Hoteldirektor Thies Bruhn ist nun wieder ein Mann mit 30 Jahren Kempinski-Karriere am Werk, der zeigt, dass er in die richtige Richtung denkt. Einzig hat er nach einem Jahr „Baustellen-Aufräumen“ und der danach folgenden Corona-Krise noch gar keine Chance gehabt, den Weg zu gehen. Polo-Turnier und internationales Treueprogramm sind aber schon gute Anfänge und während der kurzen Zeit zwischen den Lockdowns konnte er sogar die Preise erhöhen und hatte trotzdem mehr Anfragen, als er Zimmer anbieten durfte.

 

Sterne oder nicht?

Auch das ist eine Frage: Wie viele Sterne muss das Grand Hotel haben? Wenn es Herzstück eines ganzen Ortes sein soll, dann geht unter vier Sternen gar nichts. Wenn die Sanierung aber so teuer ist, dann bringt ein Vier-Sterne-Hotel die Kosten nicht so schnell wieder rein, wie es wirtschaftlich notwendig und für die Anleger erträglich ist. Schon für sich muss das Grand Hotel 5 Sterne haben. Wenn nun auch die Kosten der Sanierung der Villen hoch sind und die Wohnungen darin also anspruchsvoll ausgestattet zu dementsprechenden Preisen verkauft werden, dann zieht dort eine Klientel ein, die 5 Sterne mag und mit vier Sternen kein so attraktives Angebot bekommt. Also muss das Grand Hotel auch für die neuen Bewohner fünf Sterne als Niveau bieten. Die Vermarktung über TUI und Neckermann war ein Abstecher in die Vier-Sterne-Welt und sehr lehrreich.

 

Masse oder Klasse?

So ist es auch eine Verständnisfrage, ob man den kleinen Ort selbst mit Massentourismus vollstopft und von der breiten Masse an Tagesgästen pro Kopf 20-30 Euro im Ort bleiben oder ob man den Ort zum Urlaubsort macht, damit die Leute bleiben, statt nur durchzuwandern.

Über die Privatvermieter bleiben dann gut noch mal 100 Euro pro Tag zusätzlich im Ort. Trotzdem sind 130 Euro gerade mal das, was Hotelgäste am Tag nebenbei ausgeben, plus fast 300 Euro für die Übernachtung. Man verdient also auf kleinem Raum lieber mit weniger Leuten mehr Geld als mit mehr Leuten weniger.

Eigentlich sollte das sogar im Interesse der Einheimischen sein, denn die haben auch etwas davon, wenn ihr Ort sich herausputzt, es eine schöne Promenade, einen tollen Strand, eine erlebnisreiche Seebrücke, einen richtigen Kurpark und viele Angebote gibt. Wohnen, wo andere Urlaub machen heißt auch, all das vor der Tür zu haben, wozu andere in den Urlaub fahren. Wäre der ganze Ort so, wie das Grand Hotel, bräuchte man über Zäune nicht reden.

Die Leute würden nicht mehr „ins Grand Hotel fahren“, sie würden „nach Heiligendamm fahren“ und dieser Name wäre wie früher wieder ein Synonym für etwas, das alle kennen, bewundern und schön finden. Was verbindet man heute mit Heiligendamm? Ich kann es Ihnen nach hunderten geführten Gästen sagen: Verfall, Zoff und G8. Die Schönheit sehen viele Leute nur, wenn man sie ihnen zeigt.

Eigentlich könnten die Einheimischen den Verzicht auf Massentourismus auch gut finden, denn so wird der Ort nicht überrannt, wie auf den Inseln und in Ostholstein, wo man die Einheimischen auch mal über zu viele Touristen schimpfen hört. Mit der Klasse bleibt Platz am Strand. Dazu aber muss man dem Hotel und Jagdfeld etwas gönnen können und damit ist es nicht so gut bestellt.

Denn hier kommt einiges zusammen: Anno Augst Jagdfeld verkörpert für viele den reichen Mann aus dem Westen, der den armen Ossis alles wegnimmt, um möglichst viel Geld zu verdienen. Man muss nicht sozialistisch erzogen sein, um das abscheulich zu finden – es reicht, in den Sechzigern aufgewachsen zu sein, als Leute wie Jagdfeld als „Spießer“ galten. Auch Ost-West bleibt ein Problem, aber das baut im Grunde auch nur auf Arm-Reich, Selbständig-Angestellt und Macht-Ohnmacht auf. Wer erst 1990 anfangen konnte, sich eine wirtschaftliche Eigenständigkeit aufzubauen, empfindet dem gegenüber, der das schon über Generationen seit 1945 konnte doch zumindest einen Nachteil.

Klasse hat auch einen Nachteil: Die Grundstückspreise steigen und Einheimische können sich kein Wohneigentum und Wohnungsgesellschaften keine Sozialwohnungen leisten und wandern ab. So gehen auch die Qualifizierten und zurück bleiben Leute, mit denen die Hotellerie nichts anfangen kann, sodass sie wiederum woanders um Mitarbeiter werben und ihnen selbst Unterkünfte schaffen muss. Klasse bedeutet auch, dass die Preise allgemein höher sind, beim Imbiss wie beim Frisör. Denn es gibt genug Gäste, die es sich leisten können. Somit wird einiges für Einheimische in ihrer eigenen Stadt unerreichbar.

Und das ist ein Knackpunkt: Vieles in Heiligendamm ist nicht unerreichbar, weil es 5 Minuten weiter weg oder eingezäunt ist, sondern weil viele es sich nicht leisten können. Urlaub für 5000 Euro ist für viele Einheimische unerreichbar, eine Wohnung für 1,2 Mio. Euro erst recht. Nicht wenigen sind schon 50 Euro fürs Pizzaessen zu viel – mir auch. Für mich als jemand mit geringem Einkommen ist vielleicht sogar mehr unerreichbar als für viele meiner Mitbürger, die als einfache Angestellte allein so viel verdienen, wie bei uns der ganze Haushalt. Aber ich habe den Strand und das Meer, die Promenade und die Seebrücke, den Wald und die Wiesen, die Architektur und ihre Geschichte, kann mir 8 von 13 gastronomischen Angeboten leisten, den Rest leiste ich mir dann eben nur zu Feierlichkeiten, manches wohl nie. Es gibt ein paar schöne Veranstaltungen und ganz viele gute Gefühle. Mehr brauche ich auch im Urlaub nicht. Ich habe sogar schon Urlaubsorte mit weniger erlebt. Ich habe zweimal mit der Familie in Heiligendamm Urlaub gemacht – 12 Kilometer vor der Haustür. Und es waren zwei der schönsten Urlaube, egal ob in Villa „Greif“ oder im Linden-Palais.   

 

Was wäre, wenn es 2012 anders gelaufen wäre?

Es gab auch in der jüngsten Zeit Ereignisse, die alles hätten verändern können. Zum Beispiel 2012. Da wollte der Investor anfangen, die Villen zu sanieren und gründete dafür eigene Gesellschaften, um das Risiko zu minimieren. Die Grundstücke mussten nun ordentlich von der ECH an diese Gesellschaften veräußert werden und da es sich um Denkmalimmobilien handelt, hatte die Stadt ein Vorkaufsrecht. Das hat man mal eingeführt, damit eine Stadt die Notbremse ziehen kann, wenn eine Denkmalimmobilie zum Spekulationsobjekt wird. Jagdfeld wollte nicht spekulieren, sondern endlich sanieren, zumal Ende 2009 der Streit um andere Details an anderen Ecken, wie dem Hotelpark endlich zu Ende war und die erste Villa nun fertig wurde.

Einige Stadtvertreter suchten nach Möglichkeiten, Jagdfeld die Villen wegzunehmen. Da es um Millionen ging, die der Haushalt nie hätte stemmen können und die Kommunalaufsicht derartige Beschlüsse eh kassiert hätte, wollte man tricksen. Man könne ja für einen Dritten das Vorkaufsrecht beanspruchen. Erst einmal wurden alle hellhörig: Jagdfelds Gegner hatten einen Dritten? War also das ganze Theater nur von einem unterlegenen Mitbewerber oder einem Kontrahenten eingefädelt? Wurde den Gegnern möglicherweise dafür etwas versprochen, wie einige Reriker es punkto Wustrow sagen? Wahrscheinlich war es nur ein Bluff.

Alles was die Stadtvertreter nun monatelang taten war, über ein Vorkaufsrecht zu reden, dass zuerst gar nicht umsetzbar und dann längst erloschen war. Die Sitzungsgelder gibt es auch für sinnlose Sitzungen. Am Ende ging es darum, dass Jagdfeld die Preise für die Villen nennen sollte, was er aber nicht wollte, da er es nicht musste und da es seine Position bei der Vermarktung verschlechterte. Denn am Ende muss er teuer sanierte Wohnungen verkaufen und die Preise sind anders als die von Grundstücken mit unsanierten Häusern drauf.

Das zeigt, dass es nicht um die Preise ging, sondern um Verzögerung und Macht. Das Jahr 2011 war witterungsbedingt schlecht gelaufen, das Hotel in Not, die Anleger auf dem Absprung und die Banken auf der Matte. Wenn Jagdfeld kein Geld verdienen könnte, würde ihm das vielleicht das Genick brechen.

Der tat, was ein Unternehmer tut, wenn eines seiner Geschäfte nicht mehr läuft. Wenn es am Geld liegt, kann er aus den Gewinnen aus anderen Geschäften dem nicht laufenden helfen. Das wurde erfolgreich verhindert, also konnte er dem Grand Hotel nicht mehr helfen und musste Insolvenz anmelden, statt sie zu verschleppen.

Was wäre gewesen, wenn die Stadt die Negativatteste ausgestellt hätte?
Die ECH hätte sanieren können, Geld verdienen und Jagdfeld so dem Hotel unter die Arme greifen. So aber lief außer dem Bauernhof (Gut Vorder Bollhagen) nichts mehr, denn Wustrow lag auf Eis und in Wittenbeck kämpfte man auch gegen Jagdfelds Vorhaben zur weiteren Ausbaustufe des Golfresorts. Jagdfeld tat das, was man sonst noch als Unternehmer macht: Mitarbeiter kündigen und die Vermarktung auf Provisionsbasis auslagern. Das hätte man voraussehen können. Das wäre, wenn…

 

Was wäre, wenn das Grand Hotel nicht pleite gegangen wäre?

Als das Grand Hotel 2012 Insolvenz anmelden musste, gab es Interessenten. Hundert sollen es am Anfang gewesen sein, eine Hand voll nach der Hälfte und zwei am Ende. Einer der Interessenten war ein Konsortium aus Advent International und Marcol. Zu der Zeit gehörte ihnen die MEDIAN-Klinik und nun erwachten Hoffnungen auf eine Rückkehr zur Kurklinik auf öffentlich zugänglichem Grundstück.

Schnell entpuppte sich aber das Interesse als viel kleiner: Eigentlich wollten sie nur die Orangerie und vielleicht noch die Burg haben, um sie der Klinik zuzuschlagen. Wenn man den Rest hätte auch nehmen müssen, hätte man ihn eben weiter verkauft oder Eigentumswohnungen draus gemacht.

Schließlich arbeiten die beiden Unternehmen nach dem Private-Equity-Prinzip. Franz Müntefering bezeichnete andere Unternehmen dieser Art als „Heuschrecken“. Das Ensemble Heiligendamm wäre zerschlagen worden und erstmals in der Geschichte nicht als Ganzes verkauft worden. Jagdfeld warnte vor einer Zerstückelung, aber auf ihn wollte schon gar keiner hören, gab man ihm doch die Schuld für die Pleite. Dabei waren die Politiker es, die das Risiko eingegangen sind, dass Heiligendamm zerstückelt und zum Spekulationsobjekt werden konnte.

Am Ende fiel man auf einen Interessenten rein, gegen den später wegen banden- und gewerbsmäßigen Betrugs ermittelt wurde. Die notarielle Beurkundung war gefälscht, die Geldgeber gab es gar nicht und letztlich durfte sich der Insolvenzverwalter noch damit herumschlagen, dass die Auflassungsvormerkung wieder gelöscht wird und der unterlegene Interessent und neue Eigentümer Paul Morzynski auch die Grundstücke unter seinen Häusern bekam.

 

Wie wäre Heiligendamm ohne Stichweg-Streit?

Der Insolvenzverwalter offenbarte später auch, wie es wirklich ablief: Er musste alle Interessenten fragen, ob sie einen direkten öffentlichen Weg über das Hotelgelände dinglich festlegen lassen oder nicht. Alle die keinen Stichweg wollten, sollte er aussortieren. Da erklärt sich die schnelle Abnahme der Interessentenzahl: So etwas wollte keiner. Morzynski wollte den Stichweg auch nicht. Dass er trotzdem den Zuschlag bekam lag einfach daran, dass er der einzige unterlegene Bieter war, der überhaupt noch Interesse hatte. Sonst wäre das Insolvenzverfahren auch noch gescheitert.

Das war 2013, zehn Jahre nach der Eröffnung des Grand Hotels. Zu der Zeit hätten die Villen fertig saniert sein sollen. Wegen einer Klausel haben Jagdfelds Gegner das verhindert: Es wurde 2004 vereinbart, auf den Stichweg zu verzichten und 2010 die Situation zu überprüfen. Liefe dann das Grand Hotel hinter seinen geschlossenen Zäunen gut und wären 20% des Investitionsvolumens für die Sanierung der Villen investiert, würde man für immer auf den Stichweg verzichten.

Das war ein realistisches Ziel. Aber es war auch eine Einladung an alle, die den Stichweg wollten, genau diese beiden Dinge zu verhindern. Und so wurde dem Grand Hotel das Leben schwer gemacht und erfolgreich über Jahre verhindert, dass die Villen saniert werden konnten. Die Tiefgarage wurde abgelehnt, die Festschreibung des Dauerwohnrechts für die Erwerber in ihren Wohnungen wurde abgelehnt, das Negativattest wurde einfach nicht ausgestellt und am Ende versagte der Landkreis auf Bitten der Stadt beim Land auf Druck des Landes auch noch die Baugenehmigung.

Damit wähnten sich die Gegner am Ziel, aber es kam anders: Jagdfeld klagte sich sein Recht ein, die Steuerzahler mussten für die Machenschaften der Politik blechen und die IHK drängte auf eine Mediation, weil Heiligendamm am Image des ganzen Landes kratzte. Auch heute noch ist Heiligendamm für viele Gäste als Streitobjekt in Erinnerung. Wer nichts davon weiß, versteht nicht, wie es 30 Jahre nach der Wende hier noch so aussehen kann. Beides ist nicht das Image, das sich ein Ort wünscht.

Die Mediation brachte Ruhe, wenigstens für fünf Jahre, denn aktuell versucht man wieder, einen öffentlichen Weg über Privatgrundstücke zu ziehen. Außerdem wird die Diskussion in Heiligendamm befeuert durch Jagdfeld-Gegner in Rerik, die wie gesagt „kein zweites Heiligendamm“ wollen.

Und das ist der Punkt, wo wir die Geschichte mal hinter uns lassen und uns das Jetzt ansehen müssen.

 

Was wäre heute anders als früher?

Früher – da werden alte Heiligendammer erzählen, was es alles Großartiges gab und jetzt nicht mehr gibt: Die Palette gibt es nicht mehr. Jagdfeld hatte das Haus aus der Insolvenz gekauft und dann abgerissen. So auch die marode Scheune nebenan und die leer stehende Drogerie. Aus Angst vor Verstecken der G8-Gegner hat man 2006 und 2007 auch andere Häuser abgerissen: Die beiden leeren Häuser an der Kühlungsborner Straße und die Scheune am Forsthaus, auch damit sie bei der Landung der Hubschrauber nicht einstürzt. Die alte öffentliche Sauna wurde mit dem Wirtschaftsgebäude des Grand Hotels überbaut, die Bungalows der Forst mit einem öffentlichen Parkplatz der Stadt und das Anglerheim und Klärwerk irgendwann mal abgerissen. Bei der Sauna war es die ECH.

Das „Golfhaus“ hingegen hat Jagdfeld nicht abgerissen und das Haus „Waldfriede“ auch nicht. Das war bei beiden die WBG Stade, die dort neue Ferienwohnungskomplexe gebaut hat. Da wurde nichts saniert oder integriert und das ist direkte Konkurrenz für die Privatvermieter in Heiligendamm, aber darüber redet man nicht. Zur Not macht man als Einheimischer eben dicht und vermietet die Ferienwohnung als Dauerwohnung.

Auch den Konsum vermissen viele und das zu Recht, denn in Heiligendamm gibt es keinen Laden für den Grundbedarf. Dass der Konsum sich in der Orangerie befand und geräumt wurde, als diese als Teil des 26-Häuser-Pakets verkauft wurde, ist ein gern übersehener Fakt. Bis heute will nicht mal ein Discounter oder ein Filialbackshop sich in Heiligendamm niederlassen, denn es lohnt sich nicht.

Das merkte auch die länger eingesessene Familie Goedeke, die mit dem „Laden Nr. 4“ in der Gartenstraße den Grundbedarf decken wollte. Es lohnte sich nicht – die Leute fuhren zum Einkaufen nach Bad Doberan. Heute betreiben die Goedekes Ferienwohnungen und den Strandpunkt mit seinen drei Imbissen. Denn damit kann man in Heiligendamm noch Geld verdienen – bei 300.000 Tagesgästen im Jahr in einem Ort, wo in der ersten Reihe zwischen billig und teuer nichts ist. Auch Familie Mundt bot einen kleinen Imbiss und etwas Grundbedarf, aber auch dieses Angebot verschwand wieder.

Es gibt sie aber durchaus, die Mutigen. Familie Ramm gehört dazu – sie hat außer dem nach einem Brand neu gebauten Jagdhaus auch das Bistro „Schwanencafé“ im Linden-Palais eröffnet. Die Qualität und das Ambiente sprechen alle gleichermaßen an. Bei den unterschiedlichen Preisen verdienen die Ramms tagsüber am Bistro an der Masse und abends im Jagdhaus kocht der Sternekoch für die Klasse.

So kann es gehen. Das hatte man sich auch beim Medinis erhofft, als es hieß, dort solle ein Bistro entstehen. Aber ein Bistro in dieser Lage ist fast schon Verschwendung. So holte Jagdfeld einen Italiener, bei dem die Pizza gegenüber dem Bistro fast das zehnfache kostet. Dafür ist sie echt italienisch und das Ambiente einzigartig. Der Laden läuft und lebt fast nur von den Hotelgästen. Und von Einheimischen, die stolz auf ihren echten Italiener sind und sich das einfach mal gönnen und leisten.

Auch Sarah Fleischer und Patrick Haninger gehören zu den Mutigen. Sie haben das DECK zu einer It-Location gemacht, die inzwischen Kultstatus hat und sie haben das in die Jahre gekommene Forstferienheim zu einer interessanten LODGE gemacht. Unten bewirtet Oliver Schols im KOSI seine Gäste. Die Speisen sind nicht 08/15, die Preise aber lange nicht so hoch, wie im Grand Hotel. Das kommt gut an.

Für die Masse gab es bis jetzt den „Herzoglichen Wartesaal“ im Molli-Bahnhof. Sabine Severin hatte sich ganz auf die breite Klientel eingestellt: Molli-Fahrgäste, Kurpatienten, Urlauber und ganze Reisegesellschaften. Das Ambiente war gut und gegen durchschnittliche Preise für gutes Essen haben auch Hotelgäste nichts. Ebenso wenig haben sie etwas gegen Eis bei Coco oder Pommes in der Wurstbraterei. Am Ende geht es ihnen um Grundbedürfnisse und nicht um Geld. Die aber von dem Geld leben, haben in der Corona-Krise gemerkt, wie es ist, wenn die Gäste ausbleiben.

Vorher haben das schon andere gemerkt und damit sind wir wieder bei dem, was weg ist: Zwanzig Torten am Wochenende verkaufte Bernd Walter im Schwanencafé. Mit der Wende war das vorbei und als das Sanatorium aufgelöst wurde, waren oft ein paar Stammgäste die einzigen Gäste unter der Woche. Walter hätte weiter gemacht, aber zum G8-Gipfel sollte er raus. Die ECH machte ihm ein Angebot und er nahm das Geld und fing in Kühlungsborn neu an.

Gerhard Butze ging gleich freiwillig. Die Stadt hatte es nicht geschafft, ein neues Gebäude zu errichten, in das er und Walter einziehen sollten und Investitionen in das alte Gebäude hätten nichts gebracht. Es soll eh irgendwann abgerissen werden. So übergab das Urgestein nach über 20 Jahren den Schlüssel nicht seiner Tochter, sondern der ECH, die nach einiger Zeit dort eine Surf- und Kiteschule einziehen ließ. Butze machte noch ein Jahr mit einem Imbisswagen weiter, aber eigentlich wollte er ja auch aufhören.

Die Surf- und Kiteschule gibt es heute noch und sie macht ein Angebot, dass es in Heiligendamm vorher gar nicht gab – schon gar nicht zu DDR-Zeiten, als Scheinwerfer auf dem Turm des Hauses „Bischofsstab“ und der heutigen Kiteschule standen, um „Republikflüchtlinge“ zu erwischen und aufzuhalten. Heute darf jeder zu jeder Zeit an den Strand und dort auch im Strandkorb übernachten. Immerhin: Strandkörbe gibt es nach drei Jahren Abstinenz während der Bauzeit wieder und sogar auch am Kinderstrand.

Überhaupt ist der Strand erst durch den Bau des Grand Hotels zum richtigen Sandstrand geworden und wird jedes Jahr wieder neu aufgeschüttet. Und das Hotel legt noch einen drauf und baut eine Strandbar, wo man auch als Einheimischer, Urlauber oder Tagesgast Cocktails schlürfen, beim Sommerkino Klassiker gucken oder bei den Withe Nights bei Musik, Canapés und Wildschwein die Sau rauslassen kann. Organisiert vom Grand Hotel und dem Medinis. Das alles wäre nicht, wenn…

 

Was wäre früher besser als heute?

Genau dort muss man weitermachen und einige Missverständnisse klären: Ja, das Grand Hotel ist eingezäunt. Aber es hat auch Tore, denn die Hotelgäste sind keine Tiere im Zoo, auch wenn einige es vor Jahren spöttisch „Reichenzoo“ nannten. Die Gäste wollen auch mal raus aus ihrer Oase und dazu haben sie Zimmerkarten, mit denen sie auch die Tore öffnen können. Von außen gibt es an diesen Toren Klingeln. Nicht an allen, aber so, dass man von der Straße und von der Promenade aus hinein gelangt. Zugegeben: Manchmal klappt das nicht auf Anhieb, weil am anderen Ende der Gegensprechanlage gerade viel los ist. Aber man kann klingeln oder man wartet, bis jemand hinaus kommt und geht dann hinein.

Im Grand Hotel kann jeder im Kurhaus-Restaurant essen. Das konnte man auch zu DDR-Zeiten – da war das Kurhaus das Einzige was am Sanatorium öffentlich war. Damals gab es noch ein Kino, das wohl aber nicht wie in Bad Doberan regelmäßig von der Allgeneinheit genutzt wurde. Früher gab es Kurkonzerte – die sind heute in Bad Doberan, aber das Grand Hotel hat dafür ein eigenes Kulturprogramm und eigens eine Kulturdirektorin, die auch Prominente, wie Daniel Hope, Martin Suter oder Sky Du Mont nach Heiligendamm holt.

Heute gibt es außer dem Kurhaus-Restaurant, das im Wechsel Frühstück, Mittag, Kaffee und Abendbrot anbietet, auch ein Gourmet-Restaurant. Der Sternekoch Ronny Siewert kocht hier – er ist der beste Koch des Landes. Das gab es vorher natürlich nicht und auch so etwas, wie die Baltic Sushi Bar war zu DDR-Zeiten nirgendwo zu finden.

Man kann im Kurhaus auch als externer Gast am Buffet Frühstück essen – es kostet halt mehr als im Schwanencafé oder dem Café Median oder beim Sonntagsbrunch im KOSI, wo es auch möglich ist. Im Haupthaus des Grand Hotels kann man in der Nelson-Bar die riesige Weinkarte durchprobieren, aber auch Kaffee trinken oder essen gehen – oft mit Livemusik. Die Bibliothek und Lobby stehen auch Gästen offen, die kein Zimmer haben. Einzig setzt man sich da nicht mit einem mitgebrachten Butterbrot hin – das versteht sich von selbst. Und man wird wahrscheinlich von aufmerksamen Mitarbeitern gefragt, ob man etwas wünscht. Außer der Bar und der Bücherei ist das in dem Haus nicht viel, denn sonst gibt es hier nur Souvenirs.

Man kann aber auch SPA buchen – im Severin-Palais schwimmen gehen, in verschiedene Saunen, sich massieren lassen, Peelings genießen, Yoga machen oder einfach nur auf dem Liegestuhl liegen und es sich bei frischem Obst und Cocktails an der Bar gut gehen lassen. Selbst am Außenpool gibt es noch einen kultigen Imbisswagen. Auch einen Fitnessraum gibt es im Severin-Palais oder man fährt auf die Dachterrasse und genießt die Aussicht. All das gab es früher nicht.

Dafür konnte man früher überall durch laufen. Um fast jedes Haus führten Sandwege und Trampelpfade herum. Eine feste Promenade gibt es erst seit 2003 und auch der Seebrückenplatz ist erst seit 2006 mit Platten ausgelegt. In der DDR hat man die Wege und Plätze aus Sand und Kies gelassen, wie sie auch zu Zeiten der Herzöge waren. Wenn es geregnet hatte, war es halt matschig, aber so war das nun einmal, wenn man nicht im grau gepflasterten und bunt umsäumten Zentrum einer sozialistischen Stadt war. Die wichtigsten Wege für die Kurgäste waren befestigt und das reichte. Autos parkte man am Straßenrand, reine Fußwege gab es nur an zwei der fünf Straßen. Man konnte mit dem Fahrrad auf in die Natur gefahrenen Pfaden auf der Steilküste entlang radeln, vorbei am Alexandrinencottage bis hin zum Kinderstrand. Wenn auch nicht schnurstracks geradeaus und über viele Wurzeln und Schlaglöcher. Aber man konnte es und man konnte überall sein.

Genau diese Freiheit aus einem Staat, in dem allen alles gehörte, vermissen einige. Früher waren sie eingesperrt in einem großen Land, heute sind sie ausgesperrt aus einem kleinen Stück Land.

Dabei ist der Hotelpark nicht das einzige Stück Wald, das in Heiligendamm eingezäunt ist. Aber das andere ist ganz im Süden des Ortes und interessiert keinem. Außer vielleicht dem, der die knapp 6.000 Quadratmeter für fast 290.000 Euro verkauft. Denn teuer geht in Heiligendamm auch in der zweiten Reihe: Da geht der Kleingarten für 10.000 Euro weg und das DDR-Einfamilienhaus für eine halbe Million. Man muss nur geduldig warten, bis sich ein Käufer findet. Von „Spekulieren“ spricht dort selbstverständlich niemand – sowas tun nur andere.

Und wo wir gerade beim Spekulieren sind: Was haben denn die Leute gedacht, die in den Häusern zur Miete wohnten? Dass das für immer so bleibt und ein neuer Eigentümer ihre DDR-Mietverträge einfach so übernimmt? Dass die Häuser saniert werden und man sich die Mieten danach weiterhin leisten kann? Dass ihnen dieses Stückchen Küste gehört und nie jemand auf die Idee kommen würde, dort eine Wohnung oder ein Haus zu kaufen und die Mieter rauszuwerfen? Wie lange hätten die Bewohner noch in Heiligendamm wohnen können, wenn die Stadt sie nicht 1997 gekündigt hätte? Hätten sie mitgeboten, um die eigenen vier Wände zu kaufen und dann aber auch zu sanieren? Oder hätten sie sich das gar nicht leisten können?

Hätten sie gedacht, dass Heiligendamm eine Oase des Sozialismus bleibt, während ringsum der Kapitalismus Einzug hält und Ferienwohnungen und Hotels entstehen, die Gäste anlocken? Hätten die paar Einheimischen dann das Schwanencafé, die Palette, die Gaststätte im Reuterhaus, die Drogerie und den Konsum erhalten? Wären sie jede Woche dort eingekehrt, auch wenn es teuer ist und auch wenn ihr Arbeitgeber vor Ort nicht mehr existiert und sie zum Arbeiten nach Bad Doberan oder Rostock fahren hätten müssen?

 

Was wäre, wenn wir die Perspektive ändern?

Manchmal hilft ein Wechsel der Perspektive, um Dinge besser zu sehen. Heiligendamm ist eine Blaupause von 200 Jahren Geschichte. Als der Gedenkstein aufgestellt wurde, war das Seebad schon ein halbes Jahrhundert alt, bestand aber gerade mal aus etwa 15 Häusern, Ställe und Scheunen mit eingerechnet.

An den Bauwerken lassen sich heute alle Epochen ablesen: Der Barock an den Stallgebäuden hinter dem Seehospiz, der Klassizismus am Kurhaus, der Historismus mit all seinen Unterarten: Das noch verhaltene Haus „Mecklenburg“, die hingegen romantisch-verspielte Burg im Tudorstil, die Cottages und Villen im Zeichen der Neorenaissance, hier heimisch-alpenländisch, dort südlich-venezianisch, aber auch als Komposition verschiedener Stilelemente, entlehnt aus Italien, England, Griechenland und Frankreich. Selbst die Kirchen sprechen ihre eigene Architektursprache und auch der Fürstenhof im Stil der Neogotik.

Die Weiße Stadt am Meer ist erstarrte Musik – hier steht die Komposition über 200 Jahre Weltgeschichte in Stein erstarrt. Hier ist von Napoleon über die Revolution, Industrialisierung, Kolonialisierung und das Ende der Monarchie – von der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus bis zu den Plattenbauten der DDR alles drin. Heiligendamm hat eine lange Geschichte und alles in ihr hat seine Zeit. 

Auch die DDR hat ihre Zeit: Als Deutschland wiedervereinigt wurde, war Heiligendamm 197 Jahre alt. Vierzig Jahre DDR entsprachen gerade einmal 20% der „Lebenszeit“ Heiligendamms. Auf einen Menschen bezogen wären das 16 von den statistisch zu erwartenden 80 Lebensjahren. Die Kindheit und Jugend quasi.

Wenn man als 80jährige/r auf sein Leben zurück blickt, gibt es auch verschiedene Epochen:
Die 16 Jahre bis zur Jugendweihe. Das war die Kindheit – das war gestern. Auch wenn es schön war – würde man all das jetzt gleich noch einmal leben wollen, als 80jähriger?

Oder die folgenden 16 Jahre von der Ausbildung zur Familiengründung, zum ersten Kind. Niemand wird sagen, dass diese Zeit schlechter war als die aktuelle. Aber noch mal schlaflose Nächte und Windeln wechseln? Die Kinder sind erwachsen und man ist stolz auf sie und wünscht ihnen eine gute Zukunft, die man selbst nicht mehr erleben wird.

Die 16 Jahre danach waren vielleicht die produktivsten. Zwischen 34 und 50 hat man gearbeitet, hat gelebt, hat viele schöne Erinnerungen. Aber mit 80 noch mal arbeiten und die Freizeit randvoll mit Outdooraktivitäten füllen?

Dann kamen die 16 Jahre bis kurz vor der Rente – die Sehnsucht nach dem, was man jetzt mit 80 hat. Nicht mehr arbeiten müssen, sich seinen Tag frei einteilen und sein Leben frei gestalten können.

Mit welchen 16 Jahren möchte man als nun einmal unumstößlich 80jähriger das noch einmal eintauschen können? Man ist nun einmal 80 – man wird nicht wieder zum Kind, indem man auf der Schaukel sitzt und nicht wieder zum jungen Mann, indem man den Hammer schwingt und die gute alte Zeit kommt nicht zurück, wenn man mit dem inzwischen erwachsenen Kind Urlaub macht. Es bleiben nur die Erinnerungen und die schönen Gefühle und das ist etwas, das man bewahren muss. Ich wiederhole: DAS IST ETWAS, DAS MAN BEWAHREN MUSS!

Heute blicken wir auf 228 Jahre Geschichte zurück. Die DDR nimmt jetzt nur noch 17 Prozent dieser Geschichte ein – Tendenz natürlich sinkend. Die neue Zeit ist schon 31 Jahre alt. Was haben wir in den 13% Lebenszeit erreicht? Und was hätten wir ohne den ganzen Streit erreichen können? Was werden wir noch miterleben und was werden unsere Kinder über uns denken, wenn sie sehen, womit wir uns jahrelang aufgehalten haben?

Was werden sie denken, wenn sie in der Ferne die Jobs ausüben, die wir ihnen hier nicht geschaffen haben, weil wir uns zwei Jahrzehnte nur über Wege und Zäune stritten? Werden sie überhaupt zurück kommen – werden sie bei uns sein, wenn wir sie im Alter brauchen würden, um nicht auf fremde Hilfe angewiesen zu sein oder ins Heim zu müssen? Es ist nicht nur die Zukunft unserer Kinder, die wir mit unserem Tun oder Unterlassen gestalten – es ist auch unsere eigene.

In neun Jahren ist das vereinte Deutschland genauso alt, wie die DDR es wurde. Deren Anteil an der Geschichte ist dann wieder um einen Prozent gesunken. In 100 Jahren wird sie weniger betragen als unsere neue Zeit bis heute. Die restlichen 87% werden unsere neue Zeit sein.

Vielleicht gibt es bis dahin andere Entwicklungen. Vielleicht ist das Grand Hotel nicht mehr eine Oase in der Wüste, sondern ganz Heiligendamm eine Oase und die Grenzen verschwimmen. Vielleicht haben wir auch unseren Respekt voreinander wiedergefunden und es braucht gar keine Zäune mehr. Um eine Oase zu werden, braucht die Stadt aber für Heiligendamm einen Plan und den hat sie nicht.

 

Was wäre, wenn die Stadt einen echten Plan hätte?

Vergleicht man weiter heute und früher, dann sind die Möglichkeiten in Heiligendamm mehr geworden. Nicht nur mehr Imbisse und Gaststätten, sondern auch mehr Freizeitmöglichkeiten. Doch für ein Seebad ist das alles nicht genug. Heiligendamm soll und kann nicht groß werden, also muss man die Angebote verdichten. In der Geschichte hat man das gemacht. Man hat immer viel geboten. Im Badehaus gab es eine Apotheke, einen Imbiss, es gab modernste Technik, wie ein Barometer zur Wetterbeobachtung und ein Fernrohr. Man behandelte die Gäste mit Wärme und Reizstrom, es gab massenhaft Badezusätze und dafür sogar eine eigene Schneckenzucht. Es gab eine Krankenschaukel gegen Schwindsucht, man baute Conversationsrotunden, Wartepavillons, einen Aussichtsturm, eine Kaufhalle, schloss den Ort immer sofort an alles an: Elektrizität, Telegrafie, Eisenbahn, Zentralheizung, Abwasser. Man bot, was man bieten konnte und wer weniger zahlen wollte, nahm mit der zweiten Reihe und weniger Angebotsfülle lieb. Angebot und Nachfrage…

Damals hatte man allerdings mehr Platz und mehr Land zur Verfügung. Heute gibt es viel Privatland.  Die Verdichtung ermöglicht kaum Pufferzonen, also muss man die Grenzen so gestalten, dass sie fließend verlaufen. Dem Grand Hotel gelingt das noch nicht, weil es wie eine Oase in der Wüste ist.

Und hier ist die Stadt zuständig. Mit Fördermitteln wurde ein neues Toilettenhaus gebaut – um von Jagdfeld unabhängig zu sein. Und ein neuer Spielplatz, den die Interessengemeinschaft Heiligendammer Gastgeber forderte. Das war ein während des Streits um die Umwidmung eines Streifens des Küstenwaldes zum Hotelpark entstandener Verbund von einigen Gastgebern, die per Satzung das Grand Hotel, von vorherein ausschlossen und von denen sich die Hälfte der Heiligendammer Gastgeber distanzierte.

Das sind wahrlich keine touristischen Highlights, sondern Basics, die ein Seebad haben muss. Mehr als Basics hat Heiligendamm 30 Jahre nach der Wende immer noch nicht: Eine kurze Promenade, eine für Schiffsverkehr zu kurze Seebrücke ein per Verordnung aus dem Hut gezauberter Kurwald und halt den Strand.

Das Kurmittel Wasser kann nicht einmal ganzjährig verabreicht werden. Ursprünglich hatte die MEDIAN-Klinik ein Angebot, aber die 6 Badewannen wurden abgebaut, weil man lieber ein Kurhotel für Selbstzahler etablieren und damit Geld verdienen wollte. Dann sollte das Grand Hotel sein Chlorwasser durch Meerwasser ersetzen. Das würde aber Umbauten nötig machen und die Kosten für die Aufbereitung sind höher. Außerdem würde man das Schwimmbad mehr als bisher öffnen müssen.

Selbst an den Dingen, die sich seit 2004 verändert haben, war die Stadt nur beteiligt und nicht Investor. Die Umgehungsstraße und den Waldparkplatz haben die Steuerzahler über Fördermittel bezahlt und Jagdfeld den Kostenanteil der Stadt übernommen. Die Kühlungsborner Straße und die Seedeichstraße haben Bund und Land komplett bezahlt, ebenso den Seebrückenplatz und die Strandtreppen an der Seebrücke. Das geschah für den G8-Gipfel. Für den Spielplatz, die Toiletten und den Saisonparkplatz gab es Fördermittel, für die Strandtreppen und Ausschilderung auch. Die Stadt kann das auch gar nicht anders stemmen, denn sie verdient ja mit ihrem Seebad nicht mal eine Million. Andere Seebäder investieren im Millionenbereich, weil sie eben auch viel verdienen.

Doch die Stadt hat auch außer die Basics und den Erhalt nichts vor Augen. Es gibt keinen Plan für Heiligendamm, ja nicht einmal eine Vision und über Ideen möchten die Stadtvertreter lieber später mal reden, es würde eh nur Streit geben. Und so wird es immer später und später und bleibt Heiligendamm, wie es ist. Wo soll es auch hin? Ohne Ziel kein Weg. Bad Doberan verdient, was es verdient hat. Rerik übrigens auch. Da gibt es nicht mal mehr eine eigene Selbstverwaltung, weil die Stadt bevölkerungsmäßig immer kleiner wird und sich gegen Wachstumspläne stemmt – zumindest gegen die von Jagdfeld.

 

Was wäre, wenn Jagdfeld seine Pläne umsetzt?

Nun kommt wieder Anno August Jagdfeld ins Spiel. Der hat in seiner Planung an alles gedacht. Nicht gleich zum Anfang, aber als er sich den Stararchitekten Robert A. M. Stern ins Boot holte. Der schlug ein Thalassozentrum vor – ein ganzes Schwimmbad mit verschiedensten Becken innen und auch außen mit Meerwasser gefüllt. Und Stern ging sogar noch weiter und machte auf das in Europa noch in den Kinderschuhen steckende AyurVeda aufmerksam. Also plante Jagdfeld auch ein Ayurvedazentrum in Form eines indischen Tempels, angepasst an die Weiße Stadt am Meer. Und wenn man schon bei Gesundheit und Regeneration war, passte auch die Idee einer Schönheitsklinik ins Konzept.

Die Preise werden natürlich nicht mit Spaßbad-Ketten, Hotel-Schwimmbereichen und öffentlich finanzierten Schwimmhallen vergleichbar sein. In Bad Bevensen haben sich die Stadt und der Landkreis zusammengetan und betreiben das Jod-Sole-Bad als Betreibergesellschaft. So funktioniert die Gesellschaft hinter der Molli-Bahn auch, aber für Schwimmbäder kennt hier noch niemand so ein Konzept.

Im Expertenkolloquium 2004 kamen dann zusammen mit Planern für die ECH und für die Stadt noch weitere Ideen hinzu: Das Ensemble Palais mit riesigem Ballsaal und großer Terrasse zum Wald, vor allem aber einer Rezeption für die nun als Eigentumswohnungen mit Hotelservice umprojektierten Villen-Wohnungen.

Und auch ein Konferenzzentrum am Fürstenhof mit eigenem kleinen Hotel in demselben wurde in den Masterplan aufgenommen. Damit hätte Heiligendamm mehrere Standbeine: Wohnen und Urlaub, Gesundheit und Wellness, Gesellschaft und Kultur und Business. Diese Säulen würden sich auch untereinander stützen, denn sie haben ein gemeinsames Fundament – die Bedürfnisse – und ein gemeinsames Dach – die Unterkünfte und den Service. Diese hochwertigen Angebote lohnen sich erst, wenn genug Interessenten dafür in Heiligendamm wohnen und Urlaub machen.

Am Ende ging dem Fonds aber schon das Geld aus, um den SPA-Bereich zu vergrößern. Das musste der jetzige Eigentümer machen und er tat es, weil er zu demselben Ergebnis kam, wie Jagdfelds Berater von PriceWaterhouseCoopers damals, als Jagdfeld zusätzliches Geld einsammeln und einen Kapitalschnitt machen wollte. Die Anleger vertrauten ihm nicht mehr. Am Ende reichte das Geld nur für ein kleines Sportzentrum am Südrand. Aber was wäre gewesen, wenn sie ihm noch einmal vertraut hätten? Dann wäre das Hotel vielleicht heute noch ihres.

Alle eben genannten Projekte sollen ohnehin nicht über Fonds finanziert werden. Die FUNDUS-Gruppe hat das aus der Mode gekommene Fondsgeschäft aufgegeben und sich in DIG (Deutsche Immobilien Gesellschaft) umbenannt und finanziert neue Projekte nun klassisch. Darum müssen sie umso mehr rentabel sein. Schon eine Schwimmhalle ist nicht rentabel. Ein Thalassozentrum in diesem Format kann mehr, aber es müssen genug Leute vor Ort wohnen und das ist noch nicht gegeben.

Hier kommt das nächste Vorhaben ins Spiel, das nach der Sanierung der Villen dann auch das nächste sein könnte. Zwischen Grand Hotel und Bahnhof soll der „Demmler-Park“ entstehen – ein Komplex aus mehreren Gebäudeteilen im Stil des Adlon und Ausmaß der MEDIAN-Klinik. Im Erdgeschoss über der Tiefgarage soll es Gewerbeflächen geben.

Jagdfeld will also das schaffen, was die Stadt nicht schafft: Flächen für eine Grundversorgung, für Läden, Boutiquen, Cafés, Frisör, Juwelier & Co. Hätte die Stadt das gemacht, hätte sie in der Hand, welche Anbieter dort einziehen. So hat es Jagdfeld in der Hand und da wird es nicht Takko, sondern Gucci werden und nicht der Lila Bäcker, sondern Kambs oder Goesch. Aber es wird auch Raum sein für die, die Geld an der Masse verdienen wollen, denn der Markt dafür ist da und die Nachfrage bestimmt das Angebot.

 

Was wäre, wenn Heiligendamm heil wäre?

Ja und dann wird Heiligendamm die Dinge haben, die wir jetzt vermissen. Die Menschenströme werden sich besser verteilen, der Druck auf die Sackgasse der Promenade wird nachlassen und damit werden sich auch neue Perspektiven eröffnen.

Der letzte Leiter der Fachschule für angewandte Kunst, Professor Skerl sagte einmal, Heiligendamm ist durch seine Zäune zerstückelt – nicht mehr heil. Er klagt die Grundstückseigentümer damit nicht an, nennt auch den Grund: Respektlosigkeit. Und so ist es: Würden nicht Menschen neugierig an den Terrassen vorbei ziehen, die Häuser ungeachtet der Privatsphäre der Gäste fotografieren, würden sie nicht glauben, die Welt gehöre ihnen und sie dürften überall hin gehen – schließlich sei es früher auch so gewesen – und würden sie nicht lästern, spotten oder gegen die Grundstückseigentümer kämpfen, dann gäbe es keinen Grund, etwas einzuzäunen.

Die Kritiker der Zäune selbst führen Hotels an, wie die Yachthafenresidenz, die als kleiner Stadtteil bei Warnemünde aus dem Boden gestampft wurde. Die Leute lieben den Yachthafen mit der langen Mole, den gelb gekachelten Promenaden, den Sitztreppen am Hafenbecken, dem Piratenspielplatz und der Gastronomie. Sie haben genug, sie müssen nicht Hotelgäste begaffen, ob da vielleicht ein Promi bei ist. Sie brauchen nicht zurückgehalten werden mit Pufferzonen und Zäunen. Sie benehmen sich einfach. In Heiligendamm hingegen werden Erwachsene zu trotzigen Kindern.

 

Was wäre, wenn die Region zusammenarbeiten würde?

Doch man kann noch weiter über den Tellerrand hinaus denken: Die Nachbarn schlafen nicht. Manchen wird Heiligendamm zu spießig und nobel werden und er wird nebenan in Börgerende seine Zeit verbringen. Regional gesehen ist das gut, denn so haben auch die Nachbarn etwas vom Kuchen. Außerdem kann man im kleinen Heiligendamm nicht die große Tourismuspyramide aufstellen, ohne dass es Spannungen gibt.

Gemeinsam mit Bad Doberan und Börgerende ist genug da, um von einem Stern bis fünf Sterne alle Gäste zu bedienen. Börgerende will gar nichts anderes als billige Betten für die Masse und schmale Angebote für schmale Geldbeutel. Der Gemeinde reicht es erstmal, überhaupt Kurort zu werden und zusätzlich kassieren zu können. Zum Glück für Heiligendamm kann in Börgerende auch keine Konkurrenz entstehen, denn es wurde bereits alles mit einfacheren Ferienwohnungen zugebaut.

Wettbewerb könnte eher in Kühlungsborn entstehen, aber dort setzt man auch nur auf Ferienwohnungen, wenn auch ab jetzt nobel. Paul Morzynski hat in Kühlungsborn mit dem Upstalsboom ein großes Hotel und in Bad Doberan mit dem Prinzen-Palais auch eines. Er macht es, wie die Ramms und das Paar Fleischer und Haninger: Sich breit genug aufstellen.

 

Was wäre, wenn wir alle gleich wären?

In der Breite liegt auch die Antwort auf so viele Fragen. Schaut man über den Tellerrand hinaus, wird einiges klarer.

Weshalb fährt man denn nach Heiligendamm?
Wahrscheinlich will man an den Strand und die See. Das kann jeder, ob Tagesgast oder Hotelgast, ob arbeitslos oder Millionär. Und wer sich dabei die Gucci-Sonnenbrille nicht leisten kann, der kann es zuhause auch nicht. Dafür kann der Urlaubsort nichts und auch kein Mensch in ihm.

Baden, sich sonnen, seine Strandmuschel aufbauen, im Strandkorb sitzen, FKK machen, mit dem Hund spazieren gehen, auf der Promenade flanieren, auf dem Deich oder durch Wald und Wiesen wandern, Joggen, Walken, Radfahren, den Spiegelsee suchen, Yoga machen, auf oder unter der Steilküste laufen, Steine sammeln oder ins Wasser schmeißen, surfen, kiten, Stand-up-paddeln, bei der Wasserwacht mitarbeiten, angeln, seine Drohne steigen lassen, fotografieren, Mollifahren, Musik hören, ein Buch lesen, malen, arbeiten, etwas essen oder trinken, sich im SPA verwöhnen lassen, Kultur genießen oder eine Stadtführung mitmachen oder einfach einen Ausflug in die Umgebung – alles das kann jeder, wenn sein Geld schon dafür reichte, hier zu sein.

Von morgens bis abends gibt es keinen Unterschied zwischen dem Hotelgast, dem Gast der Ferienwohnung oder der Klinik, dem Einheimischen oder dem Tagesgast. Man erkennt sie meistens nicht mal, denn keiner von ihnen trägt eine Armbinde oder einen Aufnäher an seiner Brust. Niemand kann wegen seiner Unterkunft vorverurteilt werden. Alle können alles machen, die einen mehr, die anderen weniger und auch das aus ganz verschiedenen Gründen, von denen Geld nur einer ist.

Der Unterschied zeigt sich abends, wenn es dunkel wird, alles schließt und die Leute gehen. Er zeigt sich eigentlich gar nicht wirklich, denn man sieht es gar nicht wirklich, ob jemand nun in die Median-Klinik oder in die Residenz von Flotow geht, ins Grand Hotel oder in eine der Villen oder zum Linden-Palais oder in die Gartenstraße. Man mag zwar den einen oder den anderen in eine Tür gehen sehen, aber nicht alle. Er zeigt sich also nur indirekt.

Doch man hat diese seine Unterkunft, weil man es wollte. Man wohnt im Linden-Palais, weil man Seeblick, aber nicht teuer bezahlen wollte oder in der Gartenstraße, weil einem die neuen Ferienwohnungen zu teuer waren. Oder man ist zur Kur, um wieder normal leben zu können oder man wohnt hier, weil man hier wohnen will oder man fährt weiter zu seiner Unterkunft oder seinem Zuhause in einem anderen Ort. Oder man findet Heiligendamm nicht gut, zieht weiter und kommt nicht wieder.

Man ärgert sich in seiner Ferienwohnung genauso über laute Menschen unter seinem Schlafzimmerfenster, wie der Kurpatient, der Einheimische, der Hotelgast oder der Villenbewohner und es stört aus jedem Fenster, wenn man raus gucken will und andere davor stehen und rein gucken wollen. Man denkt bei jedem einsehbaren Fenster daran, begafft werden zu können. Man hat in allen Unterkünften genauso Angst um sein Hab und Gut, wenn fremde Menschen durch den Garten laufen oder ums Auto herum. Es macht keinen Unterschied, wer und woher man ist.

Es ist egal, wer man ist und woher man ist. Die Bedürfnisse der Menschen sind dieselben – nur die Menschen sind verschieden. Wenn man das weiß und akzeptiert, dann kann es noch was werden.

 

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