Heute vor 226 Jahren: Das erste deutsche Seebad eröffnet in Doberan
Vor 226 Jahren am 21. September eröffnete in Doberan das erste deutsche Seebad am Heiligen Damm. Herzog Friedrich Franz I. gründete hier das erste deutsche Seebad. Daran erinnert heute der Gedenkstein, der zum 50. Jubiläum der Seebadgründung durch den Enkel, Thron- und Namenserben Friedrich Franz II. vis à vis zum Badehaus aufgestellt .
Mehr noch als der tonnenschwere Findling erinnert aber das, was man rundherum sieht. Ganz so, wie in Brighton, wo am Royal Albion Hotel eine kleine Tafel den Betrachter informiert, dass hier das Haus Dr. Richard Russells stand und die sagt:
Wenn du sein Denkmal suchst, sieh dich einfach um.
Seebad-Idee stammt aus England
Der britische Arzt Russell war es, der mit seiner Wiederentdeckung der Heilwirkung des Meerwassers für Aufsehen sorgte und der an der Old Steine das erste Seebad der Neuzeit gründete – weit nach den Ägyptern, Byzantinern, Griechen und Römern, die allesamt schon das Thalasso praktizierten, also das Baden im Meerwasser. Im Europa des finsteren Mittelalters war das Baden in der See wieder in Vergessenheit geraten, galt als gefährlich und war schließlich sogar verpönt. Wasser war was für die Wanne – wohl erwärmt und angereichert mit mehr oder weniger duftenden Badezusätzen. Richard Russell machte das Baden im Meer wieder salonfähig und die englische haute volée nahm es gern an. Erst recht, nachdem die englischen Könige und Prinzen das einstige Fischerdorf Brighthelmstone zu ihrer Sommerresidenz erkoren.
Erstes Seebad hätte auch ein Nordseebad sein können
Während in England reihenweise Fischerdörfer zu Seebädern wurden und bald eine Perle von Seebädern die südöstliche Inselküste durchzog, war man in Deutschland noch weit davon entfernt. Reiseberichte gelangten auf das Festland und der Pastor Gerhard Otto Christoph Janus schlug Friedrich dem Großen vor, auf seinem Eiland Juist das erste deutsche Seebad zu gründen. Die Preußen erhörten den Inselpfarrer nicht – wahrscheinlich kam sein Schreiben gar nicht über die ostfriesischen Grenzen hinaus, so verrückt, wie dieser Vorschlag doch war. Andere sagen, Janus habe geglaubt, nicht das Seebad, sondern die Seefahrt und speziell die Seekrankheit übe eine heilende Wirkung aus. So oder so wurde dann nicht Juist, sondern die Nachbarinsel Norderney das erste deutsche Nordseebad und Juist folgte 1840 – fast ein halbes Jahrhundert nach Doberan-Heiligendamm.
Lichtenberg ist geistiger Vater des ersten deutschen Seebades
Und doch hätte die Nordsee das erste deutsche Seebad haben können, denn der zweite Versuch ging vom Göttinger Gelehrten Georg Christoph Lichtenberg aus.
Der kleinwüchsige bucklige Mann am Stock, dessen wacher Geist in einem verkrüppelten Körper wie gefangen war, was aber gewiss eher zu seiner Genialität beitrug, als sie zu behindern, fühlte sich bei seinen Reisen nach England erstmals nicht behindert. Hier sah ihn keiner schief an, hier konnte er Mensch sein. Zweimal war er in England und studierte sehr aufmerksam Land und Leute, Kultur und Wissenschaft. Dementsprechend wohlwollend fallen seine Berichte von den Englandreisen aus und er war es, der 1792 in einem Essay fragt:
Warum hat Deutschland noch kein großes, öffentliches Seebad?
Auch Lichtenberg wurde nicht sofort erhört. Die Zielgruppe seiner Frage beschränkte sich auch nur auf die Leser des Göttinger Taschenkalenders und der Hamburger Adress-Comtoir-Nachrichten, die sein Essay abdruckten. Aber Lichtenberg begeisterte auch direkt und sehr gezielt wichtige Leute.
Nordsee oder Ostsee – das war hier die Frage
Lichtenbergs Favorit für das erste deutsche Seebad war Ritzebüttel – ein Flecken mitten im heutigen Cuxhaven. Dort war er oft zu Gast und gern an der Nordsee. Wo die mächtige Elbe in die Nordsee mündet, wollten die Hamburger aber lieber einen Kriegshafen bauen.
So machte sich Lichtenbergs Freund, der Wasserbauingenieur Reinhard Woltmann, auf die Suche nach einem geeigneten Standort.
Er hielt die Ostsee für viel geeigneter, sie ist zugänglicher und friedfertiger gegen das menschliche Geschlecht und erwärmt sich wegen des Mangels an Ebbe und Flut in der Nähe des Ufers leichter, als die Nordsee“.
Lichtenberg zog, wann immer es noch ein Stück Nordsee gibt, dieses vor. Der Grund: Er kannte die Ostsee gar nicht. Ob er sie je kennen lernte, ist nicht überliefert, aber es ist anzunehmen, dass Professor Doktor Samuel Gottlieb Vogel Lichtenberg aus seiner Göttinger Studienzeit kannte. Denn der fast gleichaltrige Student Lichtenberg ließ seine Schmerzen bei Vogels Vater behandeln.
Der Herzog und sein Leibmedicus
Der Mediziner Samuel Gottlieb Vogel war 1789 zum Professor der medizinischen Fakultät an der Universität Rostock berufen worden und stand 1792 in Diensten bei Herzog Friedrich Franz I. von Mecklenburg am Schweriner Hof.
Er hatte eine ganze Sammlung an Literatur zur Balneologie, wenngleich es diese so noch gar nicht gab. Alles, was er zum Baden und zum Meerwasser kriegen konnte, interessierte ihn und sammelte er.
Vogel probierte selbst das Baden und beschrieb seine Beobachtungen und Annahmen. Er analysierte das Meerwasser und das ganz gewissenhaft wissenschaftlich mit den Möglichkeiten seiner Zeit.
Sein Dienstherr Herzog Friedrich Franz I. bekam im August 1792 von seinem Hofmedicus folgendes Schreiben:
„Durch die außer Zweifel gesetzte heilvolle Wirkung des Badens in Seewasser können sehr viele Schwachheiten und Kränklichkeiten des Körpers behoben werden.
Jedoch wären hierfür besondere Einrichtungen wie die in England gebräuchlichen Badekarren und ein Badehaus erforderlich.
Dass das Baden in der See unfruchtbare Weiber fruchtbar mache, kann zwar dadurch nicht bewiesen werden, dass manches Frauenzimmer dieser Art von Seebadeorten geschwängert zurückkommt, wovon es in Engelland Beyspiele genug geben soll, indessen ist gar nicht zu bezweifeln, dass es Ursachen der weiblichen, so wie in der männlichen Impotenz gibt, welche durch das Baden in der See gehoben werden. (…)“
Inzwischen hatte es auch in Preußen einen Aufruf gegeben, von dem Lichtenbergs Freund Wilhelm Hufeland sich Gehör erhoffte. Bei Königsberg wäre das erste Seebad an der Ostsee sehr gut gelegen, aber so schnell ging das nicht. Der mecklenburgische Herzog sah wohl die Gefahr, dass ein anderer ihm zuvorkommt und schrieb im September zurück:
„Mir sind bey meiner Anwesenheit ihre von ihnen schriftlich aufgesetzten Gedanken, über Anlegung eines Seebades, übergeben worden, ich wünsche daher daß der Herr Hofrath mir darüber mögen, einen Plan aufsetzen, welchen ich nicht verfehlen werde, aufs genaueste zu prüfen, um als dann so viel als möglich zur Ausführung desselben beytragen zu können. Besonders, da es mir nicht gleichviel sein kann, manchen kranken Menschen dadurch glücklich zu machen, nicht zu gedenken, daß Geld im Lande verzehrt wird, was auswärtige Bäder demselben entziehen. Ich erwarte daher mit Vergnügen Ihre Vorschläge, in Betreff dieser heilsamen Anstalt (…).“
Geld fürs Seebad durch den Verleih von Soldaten
Geld war dann auch das große Stichwort. Das nämlich hatte der Herzog nicht gerade üppig zur Verfügung. Allerdings spielte die große Weltpolitik dem kleinen Herzogtum in die Hände: Der König von Oranien – der Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Großvater des heutigen Königs Wilhelm Alexander und Namensvetter Wilhelm V. sah sich von bedroht und erbat Hilfe.
Die bekam er aus dem nahen, aber strategisch weit genug entfernten Mecklenburg in Form von 1000 Söldnern. Es gibt Quellen die sagen, dass die mecklenburgischen Soldaten für Oranien gegen Napoleon kämpften.
Das ist aber wenn, dann nur die halbe Wahrheit: Als die beiden Regenten den Leasing-Vertrag 1788 unterschrieben, kämpfte Wilhelm V. gegen die „Patrioten“ – Aufständische, die den unfähigen König stürzen wollten. Mit Hilfe der mecklenburgischen und auch preußischen Soldaten konnte er an der Macht bleiben. Der Vertrag galt bis 1791, wurde dann aber bis 1796 verlängert. 1795 trafen die Franzosen in Oranien ein und erst da kann es zum Kontakt der Mecklenburger mit der Grande Armée gekommen sein. Wilhelm V. flüchtete allerdings sogleich nach England.
Nichtsdestotrotz verloren zwei Drittel der Soldaten ihr Leben. Dafür zahlte der Oranier dem Mecklenburger umgerechnet 57.000 Silberdukaten (30.000 Taler) im Jahr plus Entschädigungen für Verwundete und Gefallene.
Dieses Geld ging in seine herzogliche Schatulle und er wies an, keine andere Kasse als diese für die Anlegung des Seebades zu molestieren. So entstand das Seebad am Heiligen Damm mit dem Geld, das die tausend Landeskinder brachten. Aber auch mit ihrem Blut, denn ein Drittel der Söldner sah seine Heimat nicht wieder.
Der Heilige Damm
Bevor aber das erste Geld in des Herzogs Schatulle floss, umspülte das Salzwasser der Ostsee seine Beine. Am 21. Juli 1793 inspizierte eine kleine Gesellschaft aus dem Herzog und 10 Kammerherren den von Vogel vorgeschlagenen Ort an der Küste nördlich von Doberan.
Hier, am Ende eines holprigen Weges lag eine Lichtung hinter dem langen Wald, der sich von Doberan bis zur Ostsee zieht. Platz wäre auf mehrere Kilometer Länge gewesen und auch die Eigentumsverhältnisse waren für den Regenten günstig. Der Flecken an der See war bekannt durch seine Sage:
An der Ostsee in der Nähe von Doberan war ein Ort in großer Bedrängnis von der Flut, und die Einwohner sahen ihr gewisses Verderben vor Augen. Mit jedem Tage entführte die Flut ein Stück vom Lande, schon drohte den nächst am Ufer gelegenen Häusern der Untergang. Da wurden im ganzen Mecklenburger Lande Betstunden angeordnet, und das Flehen und Schreien eines ganzen Landes fand Gnade vor dem Herrn. Zum letzten Male hatten sich mit Furcht und Zagen die Bewohner zum Schlummer niedergelegt, und viele fanden ihn nicht, denn die See rauschte gewaltig und ging hohl, und der Boden erzitterte, und es zuckten Blitze über die Meereswogen.
Dann wurde es stiller, und der Mond trat hinter Wolken hervor, und da schauten manche vom Strande ängstlich hinaus, da lag etwas Großes, Dunkles im Wasser, und manche meinten, es sei der Kraken, der seinen inselgleichen Rücken aus der Flut hebe, und als der Tag kam, siehe, so verlief sich das Wasser mehr und mehr vom Strande, und vor den Blicken der erstaunten Bewohner lag eine hohe Düne wie ein Wall und fester Damm. Der war auf das Gebet des Landes in einer Nacht entstanden durch die göttliche Hilfe, und alles Volk lobte Gott, und sie nannten den Damm den >heiligen Damm< und konnten ihn nicht ohne Dank und Verehrung erblicken.
Wie viele Sagen hat auch diese einen realen Hintergrund. Eine Sturmflut drückte fast zwei Wochen lang das Wasser von Norden über die Küste bis ins Binnenland. Recht plötzlich schlug der Wind dann um, die Wassermassen drückten zurück aufs Meer, spülten alles mit und gaben dadurch den Blick auf einen sonst ein paar Meter unter dem Meeresboden liegenden Flöß aus schwarzen Flintsteinen frei.
Heute findet man viele dieser „Feuersteine“ am Strand. Den Heiligen Damm aber sieht man nicht mehr. Über den Zeitpunkt jener Flut herrscht Uneinigkeit. Es wird das Jahr 1427 angeführt, in dem die Mönche durchaus noch in Doberan lebten. Aber die Pegelstände dieser Flut sprechen gegen dieses Datum. Die Allerheiligenflut am 11.11.1304 hingegen hatte höhere Pegelstände und Wellenhöhen bis 7 Meter ü.N.N.. Aber diese reichten trotzdem nicht bis an die Klostermauern von Doberan heran. Wir müssen uns auf Lauremberg verlassen, der um 1650 von „vor 200 Jahren“ schreibt und immerhin als anerkannter Historiker gilt.
Vielleicht sind mit den „Klostermauern“ gar nicht die in Bad Doberan gemeint, sondern die Grenzen eines vorgelagerten Hofes des Klosters, wie die Grangie in Rethwisch direkt am Rande der tiefsten Stelle der Conventer Niederung. Dieses Thema wird noch zu erforschen sein.
Das erste Bad
An diesem heiligen Ort nahm nun der Herzog auf Anraten seines Leibarztes sein legendäres erstes Bad. Wobei er nicht der erste war, der sich in die Fluten stürzte. Heute beim historischen Anbaden in Kostümen vor tausenden Schaulustigen gewährt seine Durchlaucht dem Kronprinzen den Vortritt. Damals war Paul Friedrich noch gar nicht geboren, deshalb spielt das Historienspektakel auch nicht das allererste Bad nach, sondern das im Jahr 1825. Anno 1793 wählte man den jüngsten der Kammerherren dazu aus, in der Hoffnung, dass ein junger tüchtiger Kerl allen Widrigkeiten standhalten würde. Zumindest aber wollte man keinen erfahrenen Kammerherrn verlieren.
Der jüngste im Bunde war ein gewisser Kammerherr von Flotow und der stürzte sich auch nicht wagemutig in die Ostsee, sondern ging auf Rasensoden, die auf die heißen Steine des Strandes gelegt wurden zum Wasser, wo der Weg sich mit eiligst in die Brandung gelegten Steinen angenehm fortsetzte. Halteseile sorgten für Sicherheit und Leinentücher für Sichtschutz – immerhin hatte der Kammerherr nur Badebekleidung an, zeigte also viel zu viel Haut.
Nachdem nun dem Kammerherrn nichts passierte, stieg auch der Herzog ins Wasser. Ob nun am 21. oder 22. Juli der offizielle Beschluss für die Gründung des ersten deutschen Seebades fiel, ist angesichts des Umstandes, dass sich die Gründer zu diesem Akt ohne großartige Begleitung im Wasser befanden, nicht ganz klar. Vielleicht wollten sie es einfach mal ausprobieren und die Idee bei Nichtgefallen einfach ins Wasser fallen lassen, ohne dass jemand davon erfährt.
Spätestens aber am 22. Juli erreichte das Ganze einen offiziellen Charakter. Ein Badehaus sollte her. Aber nicht hier draußen am Strand, sondern in Doberan, wo es ja immerhin an die 100 einfache Häuser gab – meistens aus Lehmziegeln im Fachwerk und mit Strohdach. Der Flecken hatte drei Krüge, für den Herzog war das Posthaus gerade noch zuzumuten, aber er hatte auch schon den Bau eines Amtshauses auf den Fundamenten des alten Jagdschlosses seiner früheren Ahnen befohlen.
Das erste Badehaus
Die Sturmflut hatte das Wasser ja auch nach Doberan gebracht. Für eine von Ochsen getriebene Pumpe hingegen war dieser Höhenunterschied nicht zu bewältigen. So war die erste Idee, in Doberan ein Haus als Badehaus herzurichten und das Wasser dorthin zu pumpen, nicht realisierbar. Ein Badehaus konnte nur direkt am Heiligen Damm entstehen. Also wurde es gebaut. Auch hier wird dem jungen Kammerherrn eine Schlüsselrolle bei der Realisierung nachgesagt. Bis dahin badete man ganz klassisch mit Badekarren und Badeschiffen – Schaluppen genannt.
Letztlich war dieser Entschluss auch Professor Vogel zu verdanken, der gerade die Kutschfahrt an der frischen Luft als gesund anpries. Vogel und der Bauconducteur Johann Heinrich Christoph von Seydewitz wurden vom Herzog auf Bildungsreise geschickt. Sie kamen nach Pyrmont zu den berühmtesten Bädern seiner Zeit, lernten in Frankreich die Flussbadeanstalten kennen und kamen aus England mit der Erkenntnis zurück, dass es dort kein Badehaus gab, das nicht an der See stand. Damit war entschieden, dass das Badehaus direkt am Heiligen Damm entstehen soll.
Vogel soll dem Baumeister vorgeschlagen haben, das Haus nach Norden und Süden auszurichten, um dem zerstörerischen Nordwind wenig Angriffsfläche zu geben. So oder so entsprach die Ausrichtung des Hauses dem barocken Verständnis des von Seydewitz. Er richtete das Haus nach der Straße von Doberan aus, stellte es repräsentativ mit der ganzen Schauseite zum Platz, auf dem diese einzige Straße endete.
Im Badehaus gab es Badekabinette mit im Boden eingelassenen Eichenwannen, Toilettenstuhl, Stiefelknecht, Spiegel, Stuhl und Garderobe. Ein Kabinett war der herzoglichen Familie vorbehalten, aber es gab auch eines mit Flaschenzug für „Lahme“. Für das leibliche Wohl sorgte eine kleine Küche im Hause, auch eine Hausapotheke war dort untergebracht und der Bademeister wohnte im Haus. Oben unter dem Dach gab es Zimmer für Leute, denen die tägliche Fahrt zum Heiligen Damm zu beschwerlich war. Alle anderen wohnten in Doberan und fuhren täglich nach dem Frühstück zum Baden an den Heiligen Damm.
Das erste Seebad hieß Doberan
Die eigentliche Sommerresidenz entstand dann auch in Doberan und das Seebad trug den Namen dieses Flecken: Seebad Doberan. Der Kamp wurde von der Viehweide zum Park umfunktioniert, das Klosterareal zum englischen Garten und am Kamp entstand mit dem Friedrich-Franz-Palais das erste Hotel an der Ostsee. Bisher war von Seydewitz der Baumeister, aber als er in Pension gehen wollte, suchte man einen Nachfolger. Der junge Carl Theodor Severin wurde von Schweriner Hofbeamten in Vorschlag gebracht, arbeitete bis Ostern 1796 ohne Gehalt an der Seite des von Seydewitz und plötzlich wollte dieser dann doch nicht mehr in Pension gehen.
Severin gab Doberan sein Gesicht
So blieben Severins Erstlingswerke in Doberan bescheiden, bevor der Primus dann doch in den Ruhestand ging, der Herzog dem neuen Baumeister den Auftrag für ein Salongebäude gab und dessen durch und durch modernen klassizistischen Entwürfe den Regenten begeisterten.
Severin durfte auch das Palais als Wohnhaus des Regenten bauen und nach dessen Rückkehr aus dem Exil, in das er vor Napoleon floh, auch die beiden Pavillons auf dem Kamp. Hofküchenmeister Gaetano Medini ließ sich sein Haus von Severin errichten, das einstöckige Stahlbad war von ihm.
Als Oberlandbaumeister hatte Severin bei jedem Neu- und Umbau in Doberan etwas zu sagen und überzeugte die Bauherren vom modernen Klassizismus, der sich heute somit selbst in Bauernhäusern wiederfindet. Dazu trug auch bei, dass der Herzog die Umbauten der Häuser zu stattlichen Stadthäusern mit Ziegeldach durch Bauhilfsgelder unterstützte. Gemeinsam sorgten sie dafür, dass Bad Doberan so aussieht, wie es heute aussieht.
Severins Meisterwerk aber entstand am Heiligen Damm. Er sollte einen Speise- Tanz- und Gesellschaftssaal erbauen und zwar auch in diesem modernen Stil. Severin war ein Schüler der so genannten Schinkel-Schule, die weitaus mehr war, als nur eine Lehreinrichtung und die über Schinkels Lebenszeit hinaus geht. Es werden auch Architekten als Schinkel-Schüler gezeichnet, die gar nicht direkt bei ihm oder an der Schinkelschule gelernt haben, sondern von dieser Strömung beeinflusst wurden.
Wo genau Severin lernte, weiß man gar nicht, aber seine Handschrift spricht für Gilly und Langhans. Severin könnte Andrea Palladios Quattro libri dell‘architetture gekannt haben, zumindest folgte er dem Prinzip Nutzen-Sicherheit-Schönheit in allen seinen Bauwerken.
Das Arkadien des Nordens
Die alten Griechen hatten einen Traum vom Tempel am Meer. So richtig haben sie das wohl nicht verwirklicht und auf Grund der Geologie auch nicht verwirklichen können. Severin hatte nun mit dem Auftrag des Herzogs die große Chance, den alten Traum der Griechen zu verwirklichen. Doch die Griechen träumten eigentlich gar nicht von einem Haus am Wasser, sondern von einem Leben ohne Zwänge und Mühen – von Arkadien, dem Zaubergarten – dem Paradies auf Erden. Und Severin baute tatsächlich nicht nur einen Tempel am Meer, sondern er legte den Grundstein für das norddeutsche Arkadien.
Längst kannte der Großherzog das preußische Arkadien an der Havel, denn seine künftige Schwiegertochter Alexandrine von Preußen war ja die Schwester des Romantikers auf dem Thron, König Wilhelm von Preußen. Severin richtete den Tempel konsequent nach der Küstenlinie aus, sodass man aus dem Tempel aufs Meer blickt und vom Meer auf dem Tempel am Meer, Die dorischen Säulen bilden eine Säulenhalle und oben drauf auf einer prächtigen Attika thront der typische Dreiecksgiebel. Das heute „Kurhaus“ genannte Gebäude war das erste und blieb das einzige Gebäude in Heiligendamm im Stil des Klassizismus. Das barocke Badehaus wurde 20 Jahre später überbaut und aufgestockt und passt sich mit dem Historismus wunderbar an das Kurhaus an.
Das wachsende Seebad
Doch auch das ist nur einer von vielen Baustilen in Heiligendamm – von ganzen zwölf, um genau zu sein. Nach dem barocken Badehaus, dem klassizistischen Kurhaus und dem historistischen Haus „Mecklenburg“ folgte die Burg „Hohenzollern“, in Auftrag gegeben durch Großherzog Paul Friedrich, der das Vorbild im Kleinformat im Schlosspark Babelsberg gesehen hatte.
Den Bau der Burg im Stil der Romantik, wie die Epoche im deutschen Raum genannt wird, erlebte der Regent nicht mehr, weil er in jungen Jahren starb. Wohl aber die Villa „Krone“ und das Mariencottage für die Schwiegerfamilie und das Alexandrinencottage für seine Frau erlebte er noch. Alle drei haben Elemente der Neorenaissance. Sein Sohn Friedrich Franz II. – jener, der den Gedenkstein aufstellen ließ – führte das Werk seines Namensahnen fort.
Er sah die Notwendigkeit zum Wachstum, denn Urlaub am Meer war sehr modern und die Menschen aus dem kriegsgeplagten Süden kamen in Scharen an die Ostsee und was Rang und Namen hatte, wollte nach Doberan und dort direkt am Meer wohnen. Ein neues Logierhaus sollte den Bedarf decken.
Verschiedene Architekten reichten verschiedene Entwürfe ein und alle sprachen andere Formsprachen, denn man befand sich gerade auf dem Wendepunkt der Stilepoche. Neogotik und Neorenaissance konnten den Großherzog nicht überzeugen und er fand auch keine Möglichkeit, das neue Logierhaus zu finanzieren.
Also wies er an, jedes Jahr zwei Villen zu bauen – gleich in der Kubatur, verschieden im Ansehen, alle mit Balkonen, Loggien und Terrassen und mit Seeblick von allen Wohnungen. Jedes Haus sollte vier Familienwohnungen beherbergen und sie sollten in einer Reihe vom Denkstein nach Osten gebaut werden. Der Architekt Wilhelm Stern wurde mit den Entwürfen beauftragt, aber ihm gelang es nicht, bei gleicher Kubatur unterschiedliches Aussehen zu schaffen. Die Entwürfe sahen sich alle sehr ähnlich und doch bildeten sie keine harmonische Einheit.
Also beauftragte der Großherzog verschiedene Architekten und heraus kam nun ein verschiedenartiges Aussehen. Da Baudistriktsleiter Bartning die Oberaufsicht und das letzte Wort hatte, konnte kein Entwurf aus der Reihe fallen. Lediglich die Reihe selbst fiel aus der Reihe, denn die Perlenkette entstand nicht direkt hinter dem Gedenkstein, sondern ein ganzes Stück nördlich davon und etwas weiter zurück. Der Waldrand war die Vorgabe für die geschwungene Häuserreihe, denn Bäume sollten möglichst nicht weichen im Zaubergarten an der Ostsee. So blieb – gewollt oder unbewusst – Platz für ein großes Logierhaus.
Blaupause der Bäderarchitektur
Die Villen aber sprechen viele Formsprachen. Sie sehen alle irgendwie klassizistisch aus, sind es aber nicht. Sie sprechen lediglich die Sprache Palladios und darum liegt etwas südländisches, italienisches über dem Ostseebad. Kein anderes Seebad an der deutschen Küste ist so ursprünglich mediterran, wie Heiligendamm. Adaptiert man heute den mediterranen Stil, wirkt er trotzdem modern. In Heiligendamm sieht man das Alter und die lange Geschichte – selbst bei frisch renovierten Villen.
Wohl aber adaptierte man im ganzen Land die Perlenkette der Weißen Stadt am Meer und schuf großartige Villenreihen in den Seebädern der Ostsee und Nordsee. Die Heiligendammer Perlenkette wurde zur Blaupause der Bäderarchitektur.
Das Beste kam zum Schluss
Ursprünglich sollte zwischen den Villen „Seestern“ und „Anker“ eine große Restauration entstehen, aber der Herzog entschied sich dann für zwei kleine Villen. Das führte letztlich zu einer baulichen Einheit der Villenreihe. Die Restauration hätte den östlichen Teil überfrachtet. Den krönenden Abschluss fand die Perlenkette erst 1872 mit dem Anbau des letzten Hauses „Großfürstin Marie“ an das erste Haus „Perle“. Das geschah zeitgleich mit dem Anbau des Seeflügels an das Haus „Mecklenburg“ und zusammen gaben beide Anbauten dem Platz den einmaligen Charakter.
Der Turm auf der „Großfürstin Marie“ vollendet den Platz und auch die Perlenkette, deren östliches Ende der Turm auf dem demonstrativ eingerückten Haus „Bischofsstab“ bildet. Demonstrativ deshalb, weil die Baumeister damit einen Endpunkt setzen. Niemals mehr kann diese einmalige Perlenkette verlängert werden. Was auch immer neu entsteht, muss hinter oder neben ihr entstehen und neue Akzente setzen, Solitär sein, wie die Perlenkette selbst und doch im Einklang mit allem anderen stehen, was schon da ist.
Genau das ist den Baumeistern verschiedenster Generationen und Epochen über zwei Jahrhunderte hinweg gelungen, als hätten sie sich untereinander verständigt. Dabei haben sie sich nicht verständigt, sondern haben verstanden – die Weiße Stadt am Meer verstanden.
Warum der Großherzog sein Bad verkaufte
Allerdings führten dieselben Weltwirren, die die Gründung des Seebades einst begünstigten, letztlich dazu, dass der Namensvetter in dritter Generation das Seebad verkaufen musste. Mecklenburg war dem Norddeutschen Bund beigetreten und da dort das Glückspiel verboten war, fiel diese wichtige Einnahmequelle weg. Als dann noch die Sturmflut von 1872 große Schäden am und auf dem Wasser anrichtete, verkaufte der Regent das Seebad bis auf die drei Cottages. Im Unmittelbar damit zusammen hängt ein Entwurf des renommierten Berliner Architekturbüros Kayser & Großheim, das zeigt, wie Heiligendamm aussehen müsste, damit es sich selbst tragen und am Markt behaupten kann:
Mehr Kapazitäten waren das eine, mehr Angebote und das auch bei schlechtem Wetter, das andere. Die Planer berücksichtigten beides und schufen ein schlossartiges Ensemble, ein „Versailles am Meer“. Das war nicht Größenwahn, sondern entsprach dem gesteigerten Repräsentationsbedürfnis seiner Zeit – einer Zeit, in der die industrielle Revolution Europa erfasste und der Geist der Gründerzeit für Aufschwung, Zuversicht und Selbstbewusstsein führte.
Tatsächlich wurden Teile dieses „Berliner Plans“ umgesetzt: Der Seeflügel am Haus „Mecklenburg“ und das neue große Logierhaus, das den bisher nach Osten offenen Platz schloss und dem Seebad erst den heutigen Atrium-Charakter gab. Und wie schon erwähnt der Anbau an die „Perle“. Vor allem aber realisierte der
Seebad öffnet sich
Der neue Eigentümer – eine Gesellschaft mit Baron Otto von Kahlden an der Spitze – öffnete das Bad auch für andere Klientel. So entstand mit „Kriegs Hotel“ ein neues Hotel am Ortseingang und wuchs der Ort nach Süden durch den Bau verschiedener Hotel garni. Auch die Kahldens selbst ließen sich in Heiligendamm nieder und bauten die Villen „Sporn“ und „Adler“. Die Bahntrasse wurde nach Brunshaupten und Arendsee (1938 vereinigt zu Kühlungsborn) verlängert und Heiligendamm zum Dreh- und Angelpunkt der neuen Bäderbahn.
Stillstand durch Pleite, Krieg und Revolution
Die Ära von Kahlden reichte über zwei Generationen und endete 1911 mit dem Verkauf des Bades an Walter John. Der Industrielle belastete das Bad mit Hypotheken, verspekulierte sich und riss es im selben Jahr noch in den Ruin. Die Gläubiger kauften das Bad auf, um die Hypotheken zu retten.
Sie kamen aus der Region Hamburg, mindestens einer war dort Hotelier und brachte einiges an Expertise mit. Er wurde auch Ortsvorsteher in Heiligendamm und machte das mondäne Bad bekannt. Schon 1912 fand mit dem internationalen Wasserflugzeugwettbewerb die erste hochkarätige Veranstaltung in Heiligendamm statt.
Viel Zeit hatten die neuen Eigentümer nicht, denn 1914 brach der 1. Weltkrieg aus und damit kam der Badebetrieb nach und nach zum Erliegen. Vieles verwahrloste, einiges wurde zerstört, weil die Bevölkerung Holz brauchte. Während der Revolution war Heiligendamm noch einmal Thema, als es um die Frage nach der Zuständigkeit für die Versorgung der dort stationierten Soldaten ging.
Danach gab es Bestrebungen, Heiligendamm wieder mit Doberan zu vereinigen, die der Rat aber wegen eigener Probleme in Doberan ignorierte. Stattdessen wurde Doberan selbst 1921 der Titel „Bad“ verliehen. Letztlich gelang es der jungen Stadt, den demografischen und strukturellen Wandel zu meistern und zu wachsen, aber Heiligendamm blieb außen vor.
Die Goldenen Zwanziger
Der Wandel kam mit Baron Oskar Adolf von Rosenberg-Redé. Schleichend, da der jüdische Baron sich wegen des aufkeimenden Antisemitismus im Hintergrund halten musste und darum ein Geflecht von deutschen Firmen gründete, mit denen er das bankrotte Bankhaus Louis Wolff KG übernahm. Dieses hielt die Aktienmehrheit an Heiligendamm, sodass Rosenberg Eigentümer des Seebades wurde.
Er übernahm das Bad 1924 und setzte den Kurs fort, indem er einen Golfplatz bauen ließ, auf dem dann auch das erste internationale Golfturnier in Heiligendamm stattfand. Allerhand Modernisierungen folgten, wie ein Wasserleitungsnetz und andere anderswo selbstverständliche Dinge. Rosenbergs Schlüsselfigur Herzog Adolf Friedrich organisierte große Events, wie das Ozeanfliegertreffen. So erlebte Heiligendamm dann auch seine Goldenen Zwanziger. Zumindest auf den Fotos und in den Prospekten der nun offiziell so genannten „Weißen Stadt am Meer“.
Hinter den Kulissen zeichnete sich ein anderes Bild ab: Die Pächter in Heiligendamm kamen und gingen in kurzer Folge und auch die Hotel garni liefen nicht alle zufriedenstellend. Der Fürstenhof wurde nach einer Insolvenz zum Altersheim.
Heiligendamm, der „Judenbaron“ und die Nazis
Letztlich bedrängten die neuen Machthaber Adolf Friedrich 1932, „aus dieser wenig arischen Angelegenheit auszusteigen“. Sie ließen sich von den Gesellschaftern überzeugen, dass man auf das Geld des jüdischen Barons angewiesen war. Dieser tilgte weiterhin die Schulden der Gesellschaft bei der Dresdner Bank und das selbst dann noch, als die Konten von jüdischen Bürgern per Notverordnung eingefroren waren. 1936 vereinigte Gauleiter Friedrich Hildebrandt Bad Doberan, Heiligendamm und Althof, Hitler und Mussolini besuchten Heiligendamm und das Bad wurde zum KdF-Bad mit 12.780 Gästen im Jahr. Hitler verfügte den Bau einer Eliteschule in Heiligendamm und tatsächlich wurde auch mit dem Bau der Adolf-Hitler-Schule begonnen.
Österreich wurde an das Deutsche Reich angegliedert und Rosenberg versteckte sich formal in der neutralen Schweiz, wohnte aber weiter in seine Villa in Kaumberg. Faktisch konnte er kaum noch agieren. Heiligendamm funkelte noch einmal auf, als 1939 Königin Juliana von Oranien-Nassau und ihr Mann Prinz Bernhard mit ihrer neugeborenen Tochter Beatrix die deutschen Verwandten besuchte. Nach dem letzten Durchlauf im Kdf-Bad im Sommer 1939 begann der 2. Weltkrieg. Heiligendamm wurde beschlagnahmt und als Reservelazarett deklariert, Baron von Rosenberg wurde in seiner Villa zusammen mit der Tatwaffe tot aufgefunden und die Feststellung lautete auf Suizid. Gründe hätte er gehabt, aber die Todesumstände werfen heute noch Fragen auf.
Drei Tage später wurde sein Vermögen verteilt, es kam zu Übernahmen von einigen Häusern in Heiligendamm, wie die Villen „Sporn“ an den Rüstungspionier Ernst Heinkel, nebenan die Villa „Adler“ an den Gauleiter Friedrich Hildebrandt und das Haus „Bischofsstab“ an den Kameradschaftsbund deutscher Polizeibeamter. In dem Zusammenhang erfolgten auch die Umbenennung im Geiste der Zeit: Aus dem „Sporn“ des Rittmeisters wurde der „Eikboom“ des erdverbundenen mecklenburgischen Deutschen und aus dem „Bischofsstab“ aus dem Wappen Doberans gleich ganz der Name „Haus Doberan“.
Das große Paket kaufte letztlich die Reichsmarine für gerade so viel Geld, wie die Gläubiger Forderungen hatten. Das einstige Adelsbad wurde zur Reichskadettenschule und in ihm erhielten angehende Kadetten die nötige Grundausbildung, um in Mürwik zur Marineschule zugelassen zu werden. Wer durchfiel, musste zurück an die Front, wer durchkam, durfte etwas später in den Krieg ziehen.
Die Weiße Stadt wird grün
Der Krieg ging an Heiligendamm haarscharf vorbei, als ein britischer Bomber auf der Flucht vor deutschen Jägern über dem zur Tarnung der Kadettenschule grün angestrichenen Heiligendamm seine Bombenlast abwarf, um schneller fliegen zu können. Ein Soldat verlor das Leben, ansonsten wurden nur kaputte Fensterscheiben und ein zerbombter Wald gemeldet. Leichen gab es in Heiligendamm von der See aus – angeschwemmt, in Segeltuch gewickelt und mit militärischem Ehren begraben.
Mehr Krieg kam in der Provinz nicht an. Dafür kamen Flüchtlinge, zuerst aus dem zerbombten Rostock, dann aus den gefallenen Schutzgebieten im Osten. Viel mehr, als Bad Doberan Einwohner hatte. Die Kadetten wurden an die Westfront geschickt und die Flüchtlinge selbst in Garagen untergebracht. Dass die Stadt beim Einmarsch der Sowjetarmee einer Katastrophe entging, verdankt sie wohl dem Mut dreier Männer, die den letzten Widerstand aus den Gräben jagten und den Russen mit der weißen Fahne entgegen gingen.
Wende statt Ende
Der Krieg endete, die Neuordnung der Welt begann und Bad Doberan war nun Teil der Sowjetischen Besatzungszone.
Die Russen besetzten Heiligendamm und deklarierten das Bad als herrenloses Gut und da es sich um ein Militärobjekt handelte, war es nach dem Potsdamer Abkommen zu vernichten. Die Demontage begann und machte auch vor Fenstern, Türen, Armaturen und Leitungen nicht halt.
Alles sollte raus, bevor die Ruinen dem Boden gleich gemacht werden. Doch ausgerechnet der Sohn des letzten Herzogs konnte das verhindern – und bezahlte es mit seiner Freiheit.
Die großherzogliche Familie war schon Ende 1944 nach Flensburg geflüchtet, um nach Dänemark zu emigrieren, aber Friedrich Franz IV. erkrankte und starb. Sein Sohn Christian Ludwig wurde Herr des Hauses und blieb in Ludwigslust, um sich um den Familienbesitz zu kümmern. Er stellte Restitutionsanspruch für die drei Cottages. Ludwigslust war britisch besetzt – ihm drohte keine Gefahr. Das änderte sich quasi über Nacht, als die Alliierten die Grenzen ihrer Besatzungszonen festlegten und Ludwigslust von der Britischen in die Sowjetische Besatzungszone wechselte.
Christian Ludwig geriet in die Hände der Russen, wurde in verschiedene Gefängnisse verlegt und landete letztlich für drei Jahrzehnte in der Lubljanka, bevor die Bundesrepublik Deutschland ihn freikaufte. Heiligendamm sah er erst 1996 kurz vor seinem Tod wieder. Heute kümmert sich seine Tochter Donata Herzogin zu Mecklenburg von Solodkoff um den verstreuten und oft enteigneten Familienbesitz und ihr Kampf um Restitution oder Entschädigung ist gezeichnet vom Unrecht, das ihre Vater angetan wurde.
Arkadien als Sanatorium für Werktätige
Christian Ludwig bezahlte einen hohen Preis für etwas, das man heute gar nicht genug schätzen kann: Die neuen Machthaber stoppten den Abriss des Seebades und investierten stattdessen in de Wiedernutzbarmachung. Das einstige Adelsbad sollte nun ein Kurbad für Arbeiter werden – ein Sanatorium für Werktätige. Die ersten Gäste waren Landarbeiter, die auch mal Städte kennen lernen sollten und Aktivisten aus West-Berlin, die für die Ächtung der Atombombe demonstriert hatten und verhaftet wurden und nun im ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden Erholung und vielleicht eine neue Heimat finden sollten.
Das Sanatorium begann klein mit vorbeugenden Kuren. Später kamen auch Genesungskuren hinzu, Hautkrankheiten, Herz- und Kreislaufkrankheiten und Krankheiten der Atemwege wurden hier behandelt. Bergleute aus dem Süden wurden in der Burg „Hohenzollern“ konzentriert, die nun „Haus Glück auf„ hieß und nicht mehr an eine Burg erinnerte.
Denn in der DDR war Goethe das große Vorbild und der Klassiker sagte einmal zu von Erdmannsdorf, das klassische nenne er das Gesunde und das romantische das Kranke. So „heilte“ man die romantische Burg, indem man ihr die Türme und Zinnen nahm und ein Walmdach aufsetzte. Natürlich hatte das auch andere Gründe – Materialmangel zum Beispiel. Nicht alles wurde so rapide verändert – der Gesichtsverlust kam schleichend.
Heiligendamm blieb besonders
Heiligendamm wuchs mit seinem Sanatorium. Aus der Orangerie wurden die Wäscherei und ein Konsum, in den Villen wohnten Patienten und Ärzte. Aber auch ein Anglerheim, ein Forstferienheim mit Bungalowsiedlung, neue Schießsportanlagen und ein Schützenhaus und Jagdhaus entstanden. Die Wasserwirtschaft baute in Heiligendamm einen Stützpunkt, eine Gärtnerei entstand. Die Fachschule für angewandte Kunst zog 1954/55 von Wismar nach Heiligendamm und belegte bald einen ganzen Straßenzug, die Kindergartenkinder waren in der Villa „Augusta“ der Familie von Witzleben untergebracht und das Reisebüro der DDR hatte sein eigenes kleines Hotel im Haus „Bischofsstab“.
Das Prinzessin-von-Reuß-Palais gegenüber wurde vom Förderausschuss für Geisteswissenschaften genutzt, das Institut für Badeklimatologie Berlin-Buch und das Institut für Kurortwissenschaften Bad Elster betrieben Außenstellen in Heiligendamm. Tourismus hingegen spielte eine untergeordnete Rolle. Gästebetten gab es nur wenige, Gaststätten hingegen ausreichend. Im Schwanencafé in den Kolonnaden (das wegen seiner Wandbemalung so genannt wurde und eigentlich HOG „Zur Erholung“ hieß) gingen an Wochenenden bis zu 20 Torten über den Tresen und in der „Palette“ am Bahnhof wurden am Wochenende gern mal zwei Fässer Bier gezapft. Der Tourismus beschränkte sich jedoch auf Tagesgäste und Gäste in den Heimen.
Denkmalschützer bewahrten das Ensemble
Es gab einige Wechsel in der Trägerschaft. Der wichtigste war der weg vom Feriendienst des FDGB hin zur Sozialversicherung. In den 90ern gab es auch große Pläne für einen Ausbau Heiligendamms mit Schwimmhalle, Kurmittelhaus, Kaufhalle und Wohnblöcken. Immerhin war das Sanatorium einer der größten Arbeitgeber in der Stadt.
Die Denkmalschützer verhinderten eine Zerstörung des Ensembles – mit ihnen war nicht einmal eine Verbindung der Häuser zu machen. So entstanden zwar zwei Wohnblöcke in der dritten Reihe, aber auch ein ganzes Dorf mit Ein- und Zweifamilienhäusern hinter dem historischen Ortskern. Hier durfte nur bauen, wer hier auch arbeitete oder verdient war und das mit einer Auflage: Zwei Patientenzimmer im Untergeschoss mussten geschaffen werden. Auf diese Weise ersparte man sich mit jeder Menge Patientenzimmern in Privathaushalten ein neues Bettenhaus. Heiligendamm gehörte zwar weiter zu Bad Doberan, aber gefühlt war das nicht mehr so.
Zum Anfang der DDR hatte man viel Geld in den Wiederaufbau investiert und sogar originalgetreu saniert. Hier müssen die Namen Lutz Elbrecht und Adolf Kegebein hervorgehoben werden. Nur ihre Liebe zur Geschichte und zur Heimat ermöglichte eine bestmögliche Konservierung in dieser Zeit. Im Laufe der Zeit fehlte es aber immer wieder an den passenden Materialien und so verbaute man Standardfenster.
Kaputte Schmuckelemente und bröckelnder Stuck wurden nicht ersetzt, bei Grundrissänderungen wurden Loggien zugemauert, Türme zurückgebaut, Veranden geschlossen, Balkone entfernt und so verloren die Häuser nach und nach ihren Charme und ihr Gesicht. Die Villen „Perle“ und „Schwan“ zeigen, wie das Ensemble geendet wäre, wenn nicht der Chefarzt Dr. Cuno Serowy gegen die Dauerbaustelle protestiert hätte.
(K)einer wollte die Prinzessin wach küssen
Mit der Wende kam das Ende. Die Kurklinik musste umfirmieren, die Bettenzahl wurde von oben gesenkt und da es keine eigene Baubrigade mehr gab, war der Erhalt der Häuser schwierig geworden. Der Tourismus ließ nach, Bewohner zogen weg und somit sanken auch die Einnahmen der Gastronomen im Ort, die zugleich das Geld in Modernisierung investieren mussten. Manche gaben auf.
Auf Landesebene beschäftigte man sich mit Heiligendamm, spielte verschiedene Szenarien vom Abriss bis zum Staatsbad durch und stimmte schließlich dem Verkauf der dem Bund gehörenden Immobilien und Grundstücke durch die Treuhand zu. Für die Villen fanden sich Interessenten, aber für die großen Häuser nicht. So eröffnete kurz nach der Wiedervereinigung am Ende der Perlenkette das Residenz-Hotel in zwei sanierten weißen Häusern, aber der Rest verkam zusehends.
Verhandlungen mit Interessenten scheiterten aus verschiedenen Gründen: Ein kanadischer Investor wollte ein geschlossenes Resort, was in Deutschland aber nicht Promenade und Strand umfassen darf und die Asklepios-Gruppe scheiterte letztlich an den potenziellen Geldgebern, die nicht so viel zu investieren bereit waren. Die Dr.-Marx-Gruppe scheiterte am neuen Demokratieverständnis der Doberaner, die um Bäume kämpften und dafür sorgten, dass die Baugesellschaft die Median-Klinik nur an einem ungünstigeren Standort bauen durfte.
So blieb am Ende nur ein Interessent übrig und der hatte gerade das Adlon in Berlin wiederaufgebaut und wollte nun auch die Weiße Stadt am Meer zu altem Glanz verhelfen. Anno August Jagdfeld hatte einen Artikel in einer Zeitschrift gelesen -Überschrift „Wer küsst die Prinzessin wach?“. Er kam, sah und liebte und trieb seine Planer an. Die Fachwelt war sich einig, dass wenn es einer schafft, dann er. Helmut Kohl und Theo Waigel beschwichtigten ihn und tatsächlich fand er etwa 1900 Anleger, die in den geschlossenen Fonds Nr. 34 seiner FUNDUS-Gruppe einzahlten und damit die hochwertige Sanierung des Grand Hotel Heiligendamm ermöglichten.
Ein neuer „Berliner Plan“
Wie damals Kayser & Großheim aus Berlin kam auch die FUNDUS-Gruppe zu dem Schluss, dass Heiligendamm wachsen muss. Der Plan von damals konnte ja bis auf den Bau des Logierhauses nie umgesetzt werden. Zwar war das Hotel bei der Eröffnung im Sommer 2003 um ein großes Logierhaus und ein Versorgungsgebäude gewachsen, aber die Pläne von 1997 waren schon 2003 dabei, von internationalen Hotels überholt zu werden. Hotellerie muss sich stetig weiterentwickeln und zusammen mit der Expertise von Kempinski Hotels wusste man auch schnell, wohin.
Heiligendamm musste für die Nebensaison gestärkt werden. Das Baden muss auch im Winter möglich sein, es braucht Kapazitäten für Konferenzen, es braucht Angebote für Gesundheit und Entspannung und für Schönheit, denn das ist das, wofür die 5-Sterne-Klientel Geld übrig hat.
Folgerichtig wurde zusammen mit dem amerikanischen Urbanisierungsexperten eine Vision für Heiligendamm geschaffen, aus der dann ein Masterplan hervor ging, der all das vorsah: Einen Thalasso-Tempel mit Außenbecken, ein Ayurveda-Zentrum als absolutes Alleinstellungsmerkmal, ein Konferenzzentrum, ein Ballsaal, eine Gartenwirtschaft mit Biergarten und ein Apartmentkomplex mit großen Gewerbeflächen für all das, was Heiligendamm heute noch fehlt.
Jahrzehnt des Stillstandes
Doch ein Jahr nach der Eröffnung des Grand Hotels drehte sich in Bad Doberan alles nur noch um öffentliche Wege und um Zäune um die Häuser herum. Am Anfang waren es Forderungen einiger Bürger, schließlich entstand daraus eine Bürgerinitiative und deren Mitglieder gründeten eine Wählergruppe, zogen ins Rathaus ein und konnten nun mit einer Flut an Beschlussvorlagen oder durch ständige Versuche, Vorlagen in die Ausschüsse zu verweisen oder auch einfach nur ganze Sitzungen zu Heiligendamm zu diskutieren und so Zeit zu schinden, den Fortschritt verlangsamen und schließlich blockieren.
Es spielte ihnen in die Hände, dass ein Verzicht auf einen direkten Weg an Bedingungen gebunden wurde, die leicht zu vereiteln waren: Es sollte nur dann auf einen direkten Weg vom Bahnhof über das Grundstück des Investors verzichtet werden, wenn das Grand Hotel nach fünf Jahren Probe-Verzicht schwarze Zahlen schreibt und 20% des Investitionsvolumens für die Sanierung der Villen investiert sind.
Beides war nicht schwer zu verhindern: Genug negative Publicity, Stimmungsmache mit angstmachenden Desinformationen und zuletzt ganz einfach die Nichtverlängerung der Baugenehmigung waren Mittel zum Zweck, die Bedingungen für den Stichweg-Verzicht unerfüllbar zu machen. Ein Jahrzehnt lang gab es Streit und Blockaden, bevor auf Drängen der IHK im Jahr 2014 eine zweite Mediation gemacht wurde, die den Streit beenden sollte.
Die Teilung der Weißen Stadt am Meer
Das Grand Hotel war da schon seit einem Jahr in anderen Händen, denn Investor Jagdfeld konnte die enttäuschten Anleger zuletzt nicht überzeugen, noch mehr Geld in den Fonds zu investieren, um das Hotel zu retten. An Rettung glaubte angesichts der politischen Lage keiner mehr und am Ende reichte das Geld nicht einmal für die laufenden Kosten. Somit musste Jagdfeld Insolvenz für den Fonds anmelden und damit auch für das Grand Hotel Heiligendamm. Es war keine große Pleite und kein großer Schuldenberg und so fanden sich durchaus Interessenten für den Kauf des Grand Hotels.
Aber auch sie sprangen ab und der einzige, der am Ende die Forderung einiger Stadtvertreter nach einem Stichweg über das Hotelgelände erfüllen wollte, entpuppte sich als Luftnummer. So ging das Grand Hotel Heiligendamm im August 2013 an den Wirtschaftsprüfer Paul Morzynski aus Hannover, der auch an Halloren, Hussel, Eilles und Arko beteiligt ist. An der Mediation nahm er nicht teil und es dauerte einige Zeit, bis er und sein Nachbar Jagdfeld zueinander fanden.
Nichtsdestotrotz war damit die Weiße Stadt am Meer zergliedert und funktionierte nicht als Einheit. Das Grand Hotel als Keimzelle des Seebades war außen vor – ein nüchterner Wirtschaftsbetrieb, dessen Fokus ein anderer war, als die Wiederauferstehung des ersten deutschen Seebades. Es reichte nicht dass der neue Eigentümer das Grand Hotel verstand – er musste auch Heiligendamm verstehen. Nur so konnte er verstehen, was sein Nachbar Jagdfeld da tut und noch tun will.
Neuanfang zu zweit
Inzwischen macht Morzynski dort weiter, wo Jagdfeld aufgehört hat und investiert in Erweiterungen des SPA-Bereichs, in neue Angebote und auf Initiative des von Kempinski gewechselten neuen Hoteldirektors neuerdings auch mehr Internationalität. Anno August Jagdfeld hat das Team des Italieners Luigi Frascella von der Themse an die Ostsee geholt und mit ihm das italienische Restaurant „Medinis“ wiedereröffnet.
Die Italiener wurden mit offenen Armen empfangen, richteten zusammen mit dem Grand Hotel die „White Nights“ aus, sponserten die Arena Polo Masters by Polar Twist auf dem Rasen des Grand Hotels mit und sind für die Hotelgäste eine feste Adresse. Auch das Gut Vorder Bollhagen profitiert vom neuen Restaurant und noch wichtiger ist, dass das Medinis an der Ostsee direkt verbunden ist mit dem Adlon in Berlin.
Auch die im Bau befindlichen Boarding Houses für die Wohnungen der Mitarbeiter des Grand Hotels zeugen von einem wichtigen Fortschritt: Die Architektur der Häuser spricht dieselbe Sprache, wie das Severin-Palais und das Aussehen ist genauso hochwertig. Ein Indiz, ob ein heutiger Architekt den Gedanken der damaligen folgt, ist die Stuckatur: In Heiligendamm ist jedes Haus im Erdgeschoss mit waagerechter Stuckatur gebaut worden. Das hat die Jagdfeld-Gruppe bei allen Neubauten berücksichtigt, das berücksichtigt nun auch Morzynskis Architekt und selbst die Architekten der WBG Stade berücksichtigten das beim Linden-Palais und der Residenz von Flotow. Einzig der Strandpunkt und das Sanitärhäuschen dahinter, sowie das geplante Strandzentrum nehmen diese Formsprache nicht auf. Aber erstere haben als Zweckbauten und letzteres durch seine Alleinlage Solitärfunktion.
Die Familie Jagdfeld macht unterdessen mit ihrer EntwicklungsCompagnie Heiligendamm genau das, was sie schon 2004 geplant hat, 2007 beginnen wollte und bis 2015 nicht tun konnte: Die Villen sanieren, die Wohnungen verkaufen und somit die Weiße Stadt am Meer wiederauferstehen lassen. In nicht einmal vier Jahren sind zwei Villen saniert und zwei parallel im Wiederaufbau. Bis 2021 soll man laut Mediationsvereinbarung fertig sein – da die Nachfrage groß ist, wird auch schon am ersten 2004 geplanten Neubau gefeilt.
Jetzt, wo alle den Fortschritt sehen und das Resultat überzeugt, ziehen auch alle wieder an einem Strang. Und jene, die die Zukunft Heiligendamms in der Hand haben, die haben die Weiße Stadt am Meer inzwischen auch verstanden oder fühlen zumindest, welche Richtung zum Ziel führt.
So wird zwischen dem 226. Jubiläum heute und dem 240. Jubiläum im Jahre 2033 ein Riesensprung gemacht worden sein, der vergleichbar ist, mit den vielen kleinen Dekaden, in denen das erste deutsche Seebad sich sehr schnell entwickelt hat.